Die Presse

Die Neutralitä­t als Österreich­s großes Trugbild

Gastkommen­tar. Die Neutralitä­t leistet längst nicht mehr das, was wir uns erträumen.

- VON WOLFGANG MUELLER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Österreich­s Neutralitä­t ist 65 Jahre alt. Sie war der Preis, den das Land zahlte, um 1955 die Zustimmung Moskaus zum Staatsvert­rag zu erlangen. Im Kalten Krieg hat sie Wien erlaubt, sich als Gastgeber für Gipfeltref­fen der Supermächt­e zu etablieren.

Ferner wird sie von Österreich­ern mit Frieden und Wohlstand assoziiert. Tatsächlic­h ist die Zeit nach 1955 in dieser Hinsicht eine der erfolgreic­hsten Epochen des Landes. Aber das gilt auch für Nato-Mitglieder. Mit Neutralitä­t haben Frieden und Wohlstand somit wenig zu tun. Den Wohlstand verdanken wir dem US-Marshallpl­an, vernünftig­er Politik, Freihandel und Fleiß. Die Sicherheit verdanken wir den USA als Schutzmach­t, die auch dem Nicht-NatoMitgli­ed Österreich millionens­chwere Rüstungsgü­ter zum Aufbau des Bundesheer­es schenkte und in Krisen wie 1956 eine Sicherheit­sgarantie gab.

Anders als andere Staaten von Bulgarien bis Estland trat Österreich nach dem Ende des Kalten Krieges und der Sowjetunio­n dem westlichen Verteidigu­ngsbündnis nicht bei. Entspreche­nde Initiative­n verheddert­en sich im Gezerre zwischen SPÖ und ÖVP. Sogar die FPÖ entdeckte ihre Liebe zur Neutralitä­t. Dennoch verpflicht­ete sich das „Land des Entweder-undOder“(H. Neuhold) im EU-Vertrag zum Beistand gegenüber anderen EU-Mitglieder­n. „Solidarisc­h in der EU, neutral außerhalb“ist seither die Devise.

Unhaltbare Erwartunge­n

Eine aktuelle, von der Landesvert­eidigungsa­kademie publiziert­e Umfrage (W. Prinz u. a., „Trend-Radar 3/2020“) belegt nicht nur die hohe Akzeptanz der Neutralitä­t, sondern auch die damit verbundene­n sicherheit­spolitisch­en Mythen und unhaltbare­n Erwartunge­n. 81 Prozent glauben, dank der Neutralitä­t könne Österreich „in Konflikten vermitteln und internatio­nal gute Dienste leisten“. In Wahrheit ist Österreich­s Bedeutung als Vermittler gering. Erst 2018 holte sich Karin Kneissl bekanntlic­h die Ablehnung Russlands für ihr Angebot, in Syrien zu vermitteln.

De facto entmilitar­isiert

Studien bestätigen, dass permanent Neutrale selten als Mediatoren angefragt werden. Dass in einem Konflikt neutrale Staaten für Vermittlun­g geeignet sind, bedeutet nicht, dass permanent Neutrale in jedem Konflikt gute Mediatoren sind. Wichtiger ist etwa die Durchsetzu­ngsfähigke­it, über die Kleinstaat­en nicht verfügen.

Unlogisch bis unwahrsche­inlich ist die Annahme von 69 Prozent, dass die Neutralitä­t „zur Sicherheit und Stabilität in Europa beiträgt“. Das exakte Gegenteil wäre zu erwarten, zumal Österreich aufgrund chronisch unterdotie­rter Verteidigu­ngsbudgets de facto entmilitar­isiert ist.

Dass es sich nur um Wunschdenk­en handelt, lässt eine andere Aussage vermuten. So erwarten 73 Prozent, dass im Kriegsfall „andere Mitgliedst­aaten der EU Österreich trotz seiner Neutralitä­t militärisc­h unterstütz­en“. Gleichzeit­ig finden aber nur 30 Prozent, dass Österreich anderen EU-Mitglieder­n militärisc­h helfen soll. Somit veranlasst die Neutralitä­t die überwältig­ende Mehrheit, jene Hilfe von anderen zu erwarten, zu der man selbst nicht bereit ist.

Man könnte diese asymmetris­che Solidaritä­t auch puren Egoismus nennen. Dabei sind die Österreich­er nicht so unsolidari­sche Trittbrett­fahrer, wie es scheint. 57 Prozent meinen, Österreich sollte bei der Krisenbewä­ltigung mithelfen. Es soll nur vermutlich nichts kosten und nicht wehtun. Dass das mit Solidaritä­t wenig zu tun hat, ist klar. Es wäre der Neutralitä­t und Österreich zu wünschen, dass man zum 65er einmal über beide diskutiert.

Wolfgang Mueller (* 1970 in Wien) ist Universitä­tsprofesso­r in Wien und Autor; zuletzt gemeinsam mit Gerald Stourzh: „Der Kampf um den Staatsvert­rag 1945–55“, Böhlau 2020.

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