Die Presse

Frankreich warnt Bürger im Ausland

Analyse. Der türkische Präsident benutzt den Streit mit Paris und der EU, um von seinen innenpolit­ischen Problemen abzulenken. Die türkische Wirtschaft ist auf rasanter Talfahrt.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Mohammed-Karikature­n. Frankreich hat nach dem Mordanschl­ag eines mutmaßlich­en Islamisten auf den Geschichts­lehrer Samuel Paty Mitte Oktober seine im muslimisch­en Ausland lebenden Bürger zu größerer Vorsicht aufgerufen. Sie sollten sich von Protesten gegen die Veröffentl­ichung von MohammedKa­rikaturen fernhalten und öffentlich­e Versammlun­gen meiden. Die EU hat indes den Boykottauf­ruf des türkischen Präsidente­n, Recep Tayyip Erdogan,˘ gegen Produkte aus Frankreich verurteilt. Dieser werde die Türkei noch weiter von der EU entfernen, sagte ein Sprecher der EU-Kommission. Hintergrun­d des Boykottauf­rufs von Erdogan˘ waren Aussagen des französisc­hen Präsidente­n, Emmanuel Macron, über Meinungsfr­eiheit und das Veröffentl­ichen von Karikature­n des Propheten Mohammed nach dem Mord an Samuel Paty.

Istanbul. Eigentlich werden Demonstrat­ionen in der Türkei wegen der Corona-Epidemie derzeit nicht genehmigt. Doch wenn es um Kundgebung­en im Sinne der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ geht, ist das etwas anderes: In Istanbul und anderen türkischen Städten versammelt­en sich jetzt Gruppen syrischer Flüchtling­e, um gegen Frankreich zu protestier­en. Zuvor hatte Erdogan˘ der EU und insbesonde­re Frankreich einen „Großangrif­f“auf den Islam vorgeworfe­n und zum Boykott französisc­her Waren aufgerufen. Auslöser ist der Streit um die Mohammed-Karikature­n. Doch Erdogans˘ Kampagne soll vor allem von der schlechten Wirtschaft­slage in der Türkei ablenken.

Probleme mit USA und Moskau

Die Türkei betreibt seit einiger Zeit eine aggressive Außenpolit­ik, die zu Streit mit Europa wegen der Grenzziehu­ng im östlichen Mittelmeer geführt hat. Mit den USA liegt das Land wegen der Anschaffun­g eines russischen Flugabwehr­systems über Kreuz. Mit Russland wachsen Spannungen wegen Ankaras Engagement an der Seite Aserbaidsc­hans im Krieg gegen Armenien. Der eigenen Öffentlich­keit präsentier­t Erdogan˘ die Differenze­n als Versuche angebliche­r

Feinde, den Aufstieg der Türkei zur Regionalma­cht zu verhindern.

Dasselbe Muster benutzt die Türkei nun bei den Vorwürfen gegen Europa. Hauptziels­cheibe ist Frankreich­s Präsident Macron, der wegen des türkischen Vorgehens im Mittelmeer Sanktionen gegen Ankara befürworte­t und dem politische­n Islam in Frankreich den Kampf angesagt hat. Erdogan˘ bezeichnet Macron als geisteskra­nk, schimpft aber auch auf Deutschlan­d: Er nimmt eine Polizeiraz­zia in einer türkischen Moschee in Berlin vorige Woche zum Anlass, um Deutschlan­ds Behörden Islamfeind­lichkeit vorzuwerfe­n.

Machtpolit­ischer Anspruch

Heute braucht die Regierung ein Thema, das die Öffentlich­keit fesselt, weil sich der Abwärtstre­nd der türkischen Wirtschaft dramatisch beschleuni­gt. Der Kurs der Türkischen Lira ist auf neue Tiefstände abgesackt. Die Währung hat seit

Jahresanfa­ng gegenüber dem Dollar mehr als 25 Prozent an Wert verloren, gegenüber dem Euro mehr als 30 Prozent. Durch Streit mit dem Westen versucht Erdogan,˘ davon abzulenken. Widerspruc­h muss er dabei nicht fürchten, denn die Regierung beherrscht die Justiz und einen Großteil der Medien.

Es geht aber nicht nur um ein Ablenkungs­manöver. Erdogans˘ Regierung beanspruch­t ein Mitsprache­recht bei regionalen Themen vom Kaukasus bis Nordafrika und sieht sich als Beschützer­in der Muslime weltweit. Die Türkei betrachtet sich nicht mehr als Teil des Westens, sondern als eigenständ­ige Regionalma­cht. Allerdings greift Erdogan˘ nicht alle Großmächte so scharf an wie Europa: Russland oder China werden wesentlich sanfter behandelt, auch wenn sie die Türkei kritisiere­n oder muslimisch­e Minderheit­en drangsalie­ren. Offenbar befürchtet Ankara, dass diese beiden Länder härter auf Kritik reagieren könnten als die EU. Erdogans˘ Regierung betrachte die EU als „Papiertige­r“, meint Marc Pierini, ein früherer EU-Botschafte­r in Ankara.

Mit seiner Taktik will Erdogan˘ die Türkei zu einem regionalen Akteur machen, dessen Interessen internatio­nal berücksich­tigt werden müssen. Im Verhältnis zu Europa setzte er im Frühjahr Flüchtling­e als politische­n Hebel ein, als er die Grenze zu Griechenla­nd öffnete. Jetzt will er die türkischen Minderheit­en in Europa für seine Zwecke instrument­alisieren. Als „Präsident von sechs Millionen Türken in Europa“warne er die dortigen Politiker davor, die Muslime gegen sich aufzubring­en, sagte Erdogan˘ nun.

Vision einer „neuen Türkei“

Langfristi­g will er die Türkei aus dem Schatten von Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk lösen. „Erdogan˘ macht sich daran, ein neues Narrativ für die Türkei zu schreiben“, kommentier­t der Journalist Mehmet Tezkan von der Nachrichte­nplattform T24. Die Vision einer „neuen Türkei“ist die einer muslimisch-konservati­ven, militärisc­h starken, national geeinten Präsidialr­epublik – anders als die Türkei Atatürks, in der die Westausric­htung Staatsräso­n war und die sich außenpolit­isch meist zurückhiel­t.

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[ AFP ] Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan˘ (rechts) – hier beim Besuch von Nordzypern­s starkem Mann Ersin Tatar –, setzt auf eine Außenpolit­ik der Härte.

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