Von keinem Winde verweht
EU-Projekt. Von keinem Winde verweht: Die Forscher im „Odeuropa“-Programm sammeln und rekonstruieren Gerüche ab der frühen Neuzeit mithilfe künstlicher Intelligenz – und machen dabei überraschende Entdeckungen.
Die Forscher im „Odeuropa“-programm sammeln und rekonstruieren Gerüche ab der frühen Neuzeit mithilfe künstlicher Intelligenz.
Winter in Amsterdam, in einem bürgerlichen Wohnzimmer des Goldenen Zeitalters: Wie mag es da wohl gerochen haben? Klamme Kälte kroch durch dünne Mauern, Schimmel machte sich breit, alles war feucht und modrig. Aber im Kamin knisterte ein Feuer, und in die Flammen warfen die Bewohner duftende Gewürze und Harze, die süßen Wohlgeruch verbreiteten. Er stand im herben Widerstreit mit dem, was durch die undichten Fenster hereinströmte: der Gestank der Pferdeäpfel und die Ausdünstungen der Kanäle, die als Kloake dienten. Im heißen, stickigen Sommer hüllte ihr Mief die Stadt ein, wer es sich leisten konnte, floh aufs Land. Im Frühling aber blühten am Rande der Grachten Tausende Linden, ihr Aroma überdeckte alles, und die Nasen wähnten sich im Paradies.
Dieses kleine Stück olfaktorischer Vergangenheit hat Caro Verbeek rekonstruiert. Die holländische Historikerin ist Teil des Teams von „Odeuropa“. Dieses EU-Forschungsprojekt, mit 2,8 Millionen Euro dotiert, soll in den nächsten drei Jahren eine digitale Enzyklopädie historischer Gerüche erstellen, vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Das Ziel: die Duftwelten von einst wieder erwecken und für künftige Generationen bewahren. Aber auch einen Sinn neu aufwerten, dessen Rolle seit der Aufklärung zurückgedrängt wurde: Wer wissen will, müsse sehen und hören, der Nase nach führe kein Weg zur Erkenntnis. Dabei wecken Geruchsund Geschmackssinn direkter als alle anderen starke Emotionen, Zauber oder Ekel. Und holen mit einem Schlag die Welt der Kindheit und Jugend in die Erinnerung zurück – bei uns allen, nicht nur bei Proust, wenn er seine Madeleines in den Tee tunkt.
Napoleon duftete in Waterloo
Welche Spuren bleiben, wenn der Duft längst verflogen ist? Eine künstliche Intelligenz durchforstet nun „Zehntausende Texte und Bilder“, erklärt der Kunsthistoriker Peter Bell, der in Nürnberg eine Brücke zu den Software-Ingenieuren bildet. Der selbstlernende Algorithmus erkennt, wann Gerüche ins Spiel kommen und wie sie beschrieben werden – ob in Rezepturen, Romanen und Artikeln oder auf einem Gemälde. Dann stellen Chemiker durch Gaschromatografie fest, welche Moleküle das rekonstruierte Gemisch enthält, und Parfumeure stellen es schließlich her. Das duftende, stinkende
Endprodukt kann in Museen und Schulen einen neuen, noch sinnlicheren Zugang zu Kunst und Geschichte eröffnen, soll aber auch als Mittel zur Inklusion von blinden oder sehbehinderten Menschen dienen.
Mit Überraschungen ist zu rechnen. Bereits rekonstruiert hat Verbeek etwa die Schlacht von Waterloo, auch anhand des
Wetterberichts vom 18. Juni 1815: Dämpfe von nassem Gras, Schießpulver, Leder, Blut, Schweiß von Menschen und Pferden. Napoleon hingegen duftete auch am Tag seiner finalen Niederlage nach Kölnisch Wasser, das alles kaschierte, und Millionen von Soldaten späterer Kriege machten es ihm nach. Moden und Geschmack wandeln sich, wie bei jedem Sinn. Verbeek erwähnt das Nardenöl, das sich reiche Römer in die Haare schmierten und mit dem sich Jesus die Füße salben ließ, obwohl es 300 Denare kostete, den Jahreslohn eines Arbeiters: „Heute empfinden die meisten diesen Geruch als abscheulich.“
Mit natürlicher Körperausdünstung hat erst das 20. Jahrhundert ein Problem. Umgekehrt ist Verbeek überzeugt, dass Zeitreisende aus der frühen Neuzeit keinen Reiz darin fänden, wie intensiv und wahllos wir unsere Leiber jeden Morgen mit den Odeuren „von Seife, Duschgel, Shampoo, Deo und Parfum“umhüllen. Und richtig stinken würden ihnen „die Abgase der Autos, an die wir uns längst gewöhnt haben“. Abgefeiert haben solche Duftmarken der Moderne nur die italienischen Futuristen: Mit dem Schmieröl der Maschinen, dem Rauch der Schlote und dem konzentrierten Ozon aus Elektrizitätswerken wollten sie die Weihrauchdämpfe der Reaktion vertreiben. Aus ihren Notaten erhoffen sich die Odeuropa-Forscher besonders fetten Fang im algorithmischen Netz.
Riechkugeln gegen Epidemien
Wie auch aus den Zeugnissen der „Bisamäpfel“, jener kleinen, perforierten, mit Duftstoffen gefüllten Kugeln, die seit dem Mittelalter so viele am Gürtel oder am Hals trugen, um „üblen Dunst“zu vertreiben und sich so vor Pest und Cholera zu schützen. Denn nach der falschen, jahrtausendelang geglaubten „Miasma“-Theorie verbreiteten ja giftige Ausdünstungen des Bodens die Krankheitserreger. Die Reichen trugen Kugeln aus Gold oder Silber, gefüllt mit Amber, Moschus und Rosenblättern. Für die Armen mussten Seidenbeutel mit Pech und Rosmarin reichen, für die Allerärmsten Essig. Erst der Tod machte alle gleich, auch im Geruch.
So könnte das Odeuropa-Projekt einen versunkenen Kontinent der Düfte wieder auftauchen lassen. Und vielleicht die Renaissance eines Sinnes befördern, der uns in Zeiten von sozialen Netzwerken und virtuellen Meetings weiter zu verkümmern droht? Wie viel schon verloren ging, zeigt ein Vergleich: Ein Jäger-Sammler-Volk in Malaysien kennt über 200 Begriffe zur Beschreibung von Gerüchen, unsere modernen europäischen Sprachen kommen nur mehr auf rund 30. Sicher: Wir müssen keine Fährten wilder Tiere mehr erschnuppern oder zur Wetterprognose die Nase in die Lüfte recken. Aber um unsere Welt zu erfassen, im Schönen wie im Schrecklichen, sollten wir als Menschheit alle unsere Sinne beisammen haben.