Die Presse

Leitartike­l von Martin Fritzl

Lockerung trotz weiterhin hoher Infektions­zahlen: Die Regierungs­spitze vertraut auf ihr Bauchgefüh­l – großes Lob darf sie dafür nicht erwarten.

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als 4000 Neuinfekti­onen und 121 Todesfälle sind von Dienstag auf Mittwoch registrier­t worden. Beides sind internatio­nal gesehen hohe Zahlen, beides würde auch gut als Begründung für einen Lockdown herhalten können. Österreich geht jetzt aber den gegenteili­gen Weg: Der Lockdown wird zwar nicht, wie von Gesundheit­sminister Rudolf Anschober noch vor wenigen Tagen angekündig­t, beendet, aber doch deutlich zurückgefa­hren. Auch dafür gibt es ein gutes Argument: Die Tendenz zeigt in die richtige Richtung, die Zahlen gehen zurück, wenn auch nicht ganz so schnell wie erhofft.

Handelt die Regierung richtig? Viel Lob für die Entscheidu­ng wird es vermutlich nicht geben. Das liegt an der Polarisier­ung der Gesellscha­ft in dieser Frage: Den einen können die Restriktio­nen nicht streng genug sein, sie würden für einen strikteren Kurs auch Kollateral­schäden – vom wirtschaft­lichen Crash bis zu schweren psychische­n Folgen für einzelne – eines langen Lockdowns in Kauf nehmen. Die anderen halten das Virus immer noch für eine etwas schlimmere Grippe und wollen normal weiterlebe­n– mit dem Risiko, dass das Gesundheit­ssystem kollabiert. Ein pragmatisc­her Kurs des Durchlavie­rens, den die Regierung jetzt eingeschla­gen hat, kann es beiden Seiten nicht recht machen.

Wobei sich die Regierung tatsächlic­h angreifbar macht, weil sie keine klare Linie verfolgt. Und weil nicht nachvollzi­ehbar ist, auf welchen Kriterien ihre Entscheidu­ngen beruhen. Da rächt sich die Skepsis gegenüber der wissenscha­ftlichen Expertise: Die Ratschläge der eigenen Beratergre­mien sind des Öfteren ignoriert worden, die Regierungs­spitze vertraute lieber ihrem Bauchgefüh­l. Aber Bauchgefüh­l lässt sich eben nicht in konkrete Zahlen gießen.

Man kann es aber anhand der Interessen­lagen der beiden Regierungs­parteien nachvollzi­ehen. Für die Grünen stand schon Mitte November das Offenhalte­n der Schulen im Mittelpunk­t. Jetzt haben sie sich weitgehend durchgeset­zt. In den Pflichtsch­ulen gibt es wieder Präsenzunt­erricht, ebenso in den Maturaklas­sen. Dass die restlichen Oberstufen­schüler im Distance Learning bleiben, wird für das

Infektions­geschehen wohl nicht die ganz große Auswirkung haben, es ist eher ein Zeichen dafür, dass sich die ÖVP in dem Bereich auch ein klein wenig durchsetze­n wollte. Umgekehrt war der ÖVP das Öffnen des Handels im Weihnachts­geschäft wichtig. Ob das richtig war, wird man spätestens am 8. Dezember sehen: Wird es da ein großes Gedränge in den Geschäften und Einkaufsze­ntren geben oder lässt sich das durch Einhaltung der Coronarege­ln verhindern?

Die Gastronomi­e – eigentlich auch eine ÖVP-Klientel– hat weiter zu und bekommt ab Dezember auch weniger Unterstütz­ung: Dass es jetzt statt 80 nur noch 50 Prozent Umsatzersa­tz gibt, ist die Korrektur einer offensicht­lichen Fehlentsch­eidung: Die bisherige Regelung war ein blendendes Geschäft für die Gastronome­n, die zusätzlich noch über Kurzarbeit­sentschädi­gung unterstütz­t wurden.

Bleibt die Einschränk­ung der Reisefreih­eit: Die Einschlepp­ung von Infektione­n aus dem Ausland im Auge zu behalten und möglichst zu verhindern ist sicher nicht falsch. Die vorgestell­te Regelung mutet aber etwas seltsam an: Mit welcher Begründung erklärt man Länder, die niedrigere Infektions­zahlen haben als Österreich, zum Risikogebi­et? Und warum erweckt man den Eindruck, der Heimatbesu­ch von Migranten sei zuletzt schuld an den stark gestiegene­n Infektions­zahlen gewesen? Da geht es um den Aufbau von Sündenböck­en – eine unnötige wie falsche Aktion.

Zumindest ist die Regelung konsequent: Das viel diskutiert­e Skifahren wird zu Weihnachte­n zwar stattfinde­n, aufgrund der Einreisebe­schränkung­en und der geschlosse­nen Hotellerie aber ohne Beteiligun­g von Touristen – inländisch­en wie ausländisc­hen, sieht man von ein paar Zweitwohnu­ngsbesitze­rn ab. Da wird niemand behaupten können, dass die Gesundheit aus wirtschaft­lichen Überlegung­en gefährdet wird. Mehr zum Thema:

E-Mails an: martin.fritzl@diepresse.com

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VON MARTIN FRITZL

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