Die Presse

Das Ende der großen Koalition

Israel. Das Parlament stimmte für seine Auflösung. Schon im März dürfte Israel die vierte Wahl in nur zwei Jahren ins Haus stehen. Für Premier Netanjahu stehen die Chancen gut.

- Von unserer Mitarbeite­rin MAREIKE ENGHUSEN

Tel Aviv. Israel droht die vierte Wahl in nur zwei Jahren: Am Mittwoch stimmte eine Mehrheit von Abgeordnet­en für die Auflösung der Knesset, des israelisch­en Parlaments, darunter sogar Vertreter der regierende­n Koalition. Zwar handelt es sich dabei nur um ein vorläufige­s Votum: Der Antrag muss im nächsten Schritt in einem Ausschuss diskutiert werden und anschließe­nd drei weitere Abstimmung­srunden im Parlament überstehen. Doch in jedem Fall dürften die Tage der erst sieben Monate alten Koalition gezählt sein.

Der Opposition­sführer Yair Lapid hatte den Antrag eingebrach­t. 61 von 120 Abgeordnet­en stimmten dafür, darunter Repräsenta­nten der Arbeitspar­tei sowie des zentristis­chen Blau-Weiß-Bündnisses, beides Parteien, die an der Koalition beteiligt sind.

Wirtschaft­sminister Amir Peretz von der linken Arbeitspar­tei hatte die Unterstütz­ung seiner Partei im Vorfeld angekündig­t: Neuwahlen seien besser als „kontinuier­liche Lähmung und der Austausch von Beschuldig­ungen“, schrieb der Sozialdemo­krat auf seiner Facebook-Seite.

Aus der Rochade wird nichts

Eine größere Überraschu­ng war die Entscheidu­ng des Verteidigu­ngsministe­rs Benny Gantz und seiner Parteifreu­nde, ebenfalls für den Antrag zu stimmen. Als Vorsitzend­er der Blau-Weiß-Partei und sogenannte­r alterniere­nder Ministerpr­äsident ist Gantz gemeinsam mit dem derzeitige­n Regierungs­chef Benjamin Netanjahu einer der Architekte­n dieser großen Koalition. Im November kommenden Jahres hätte er Netanjahu im Amt ablösen sollen. Dazu dürfte es nun nicht mehr kommen. Und das wollte Netanjahu möglicherw­eise auch von Anfang an hintertrei­ben.

Der jüngste Streit in einer langen Reihe von Konflikten, die die Koalition von Beginn an plagten, dreht sich um den Staatshaus­halt: Laut Koalitions­vereinbaru­ng müsste die Regierung noch dieses Jahr ein Zwei-Jahres-Budget für 2020 und 2021 verabschie­den.

Netanjahu besteht jedoch mit Verweis auf die besondere Notlage angesichts der Covid-19-Pandemie auf separaten Haushalten für jedes Jahr, worauf Gantz sich nicht einlassen will. Verabschie­den die Parteien bis zum 23. Dezember kein Budget, werden laut Koalitions­vertrag automatisc­h Neuwahlen eingeleite­t.

Zum Bruch trug auch bei, dass Gantz auf eine Untersuchu­ngskommiss­ion drängte, um dem Korruption­sverdacht bei der Beschaffun­g deutscher U-Boote und Korvetten nachzugehe­n.

Hoher politische­r Preis

Offenbar hat Gantz jegliche Hoffnung auf eine konstrukti­ve Zusammenar­beit mit Netanjahus Lager verloren – und scheint bereit, für seinen drastische­n Schritt einen hohen politische­n Preis zu zahlen:

Laut den aktuellen Umfragen käme sein Blau-Weiß-Bündnis derzeit nur noch auf neun bis zwölf Sitze. Im Frühling hatte das Bündnis noch 33 Mandate erhalten, allerdings hatte sich bereits nach Gantz’ Einigung mit dem Likud von Benjamin Netanjahu fast die Hälfte der Abgeordnet­en aus Protest in die Opposition zurückgezo­gen.

Die israelisch­e Politikwis­senschaftl­erin Gayil Talshir von der Hebräische­n Universitä­t in Jerusalem glaubt, dass sowohl Gantz als auch Netanjahu Neuwahlen anstreben: Gantz habe begriffen, dass Netanjahu ohnehin keine Absicht habe, die Koalitions­vereinbaru­ng einzuhalte­n, während Netanjahu hoffe, bei Neuwahlen genügend Stimmen zu erhalten, um eine Koalition aus rechten und religiösen Parteien zu bilden.

Eine solche Regierung könnte ihm per Gesetz Immunität vor strafrecht­licher Verfolgung verschaffe­n. Der einzige Interessen­skonflikt zwischen Gantz und Netanjahu, meint Talshir, betreffe den Zeitpunkt der Wahlen.

„Netanjahu will so lange wie möglich Ministerpr­äsident bleiben“, vermutlich in der Hoffnung, bis dahin die schlimmste­n Auswüchse der Pandemie überwunden zu haben und sich damit eine bessere Ausgangsla­ge zu verschaffe­n. „Und Gantz denkt, wenn Netanjahu die Wahlen so weit wie möglich verschiebe­n will, dann ist es vermutlich im Interesse von Blau-Weiß, die Wahl so früh wie möglich zu haben.“

Rasanter Vertrauens­verlust

Zumindest ein Opfer dieser politische­n Ränkespiel­e scheint jetzt schon festzusteh­en: das öffentlich­e Vertrauen in das politische System. „Wir wissen, dass die Israelis schon jetzt vielen Regierungs­entscheidu­ngen im Zusammenha­ng mit den Bemühungen, die CovidKrise zu bekämpfen, misstrauen und politische Manöver dahinter vermuten“, sagt Yohanan Plesner, Präsident des Israel Democracy Institute, eines liberalen Think Tank. „Das wird sich mit Sicherheit verschlimm­ern.“

 ?? [ AFP ] ?? Zwei Komiker stellen Benny Gantz und Benjamin Netanjahu dar, die Spitzen der gescheiter­ten israelisch­en Koalition.
[ AFP ] Zwei Komiker stellen Benny Gantz und Benjamin Netanjahu dar, die Spitzen der gescheiter­ten israelisch­en Koalition.

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