Wieso ein Buch keine Probleme löst
Melisa Erkurts Reformvorschläge für das Bildungssystem sind nicht drastisch genug und befeuern falsche Diskurse.
Schon zu Schulbeginn, im September, ist das Buch „Generation Haram“von Melisa Erkurt erschienen, und es brachte und bringt zweifelsohne frischen Wind in die Debatte um Österreichs Bildungssystem. Ihre Geschichten vom Klassen- und Kulturhass, den man in Österreich vorrangig Migrantinnen und Migranten aus der Arbeiterschicht entgegenbringt, sind treffend. Die biografischen Erzählungen ihrer Erfahrungen als Schülerin und Lehrerin, die seit ihrer Flucht vor dem Krieg nach Wien in den 1990ern von rassistischen Erfahrungen untermauert waren, leisten einen wichtigen Beitrag: Sie definieren die Probleme im Bildungssystem als Klassen- anstatt als Migrationsfrage. Ihre Lösungsvorschläge schießen aber am eigentlichen Ziel vorbei und machen Erkurt zur unfreiwilligen Projektionsfläche des Bildungsbürgertums.
Unseliger „Verlierer“-Diskurs
Dabei könnte das Buch viele interessante Diskussionen aufwerfen. Ob es tatsächlich sinnvoll ist, die leidige Ganztagesschuldebatte vom 20. ins 21. Jahrhundert weiterzutragen, und ob das Informationszeitalter das Bildungssystem beeinflusst, sind nur zwei der spannenden Fragestellungen, die Erkurt diskutiert. Doch die Medien fokussierten stattdessen auf den „Verlierer“-Diskurs und verbreiteten die Geschichte der chancenlosen Migrantenkinder.
Daran ist Erkurt bis zu einem gewissen Punkt mitschuldig. Schließlich fällt das Wort „Verlierer“nicht nur in ihrem Buch mehrmals, sondern ist sogar im Pressetext vertreten. Die Frage ist aber, wie es zu diesen „Verlierern“kommt und wer in einem System gewinnt, das nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Alarmierend ist auch, wie sehr Erkurt ihr Jahr als Lehrerin als Versagen empfindet. Die Schwierigkeit bei Erkurts Buch liegt im Bildungsbegriff selbst, der abstrakt bleibt. In der Praxis geht es betroffenen
Eltern weniger um Bildung als um Ausbildung. Es geht darum, eine Generation großzuziehen, der es besser geht als der letzten. Und hier offenbart sich das Hauptproblem der Debatte: dass Schule immer noch als Selektionsstätte zur möglichst schnellen Heranbildung von Arbeitern, Angestellten und Medizinern dient. Diese Selektion setzt sich über Generationen fort. Bildung wird in Österreich und anderen OECD-Ländern immer stärker vererbt. Das war schon 1992 so, damals konnte man sich aber mit einer Lehrstelle über Wasser halten. Heute ist das anders, wir leben in einer Abstiegsgesellschaft. Und dafür braucht es Schuldige.
Die Schule als Ausbildungsstätte des Spätkapitalismus steckt genauso in einer Krise wie der Spätkapitalismus selbst. Migranten kommen als Grund für das kaputte Schulwesen, genauso wie für den kaputten Kapitalismus, gerade recht. Dann sind es eben die migrantischen Mitschüler, deretwegen österreichische Kinder plötzlich nicht mehr richtig Deutsch lernen.
Um dem entgegenzuwirken, beendet Erkurt ihr Buch mit einem Pamphlet darüber, wie das Schulsystem diverser und besser werden kann. Durch gezielte Anwerbung von Migranten als Lehrende, positive Vorbilder in der Gesellschaft sowie die Einführung von Ganztagsschulen, schreibt sie. Das ist ein Anfang.
Aber würden in so einem kaputten System kleine Reformen und mehr Diversität tatsächlich etwas ändern? Wohl eher nicht. Erkurt dient daher, eher unfreiwillig, als Projektionsfläche einer Bildungsschichte. Denn nichts lieben Bildungsphilister mehr als den Glauben, alle Probleme dieser Welt mit einem Buch und durch Bildung lösen zu können. Und Melisa Erkurt, ein im humanistischen Schulwesen aufgewachsenes Arbeiterkind, liefert ihnen genau das.
Mahdi Rahimi (* 1982) hat Mathematik studiert, ist Redakteur beim Mosaik-Blog und Gründer des „FM4 Hiphop-Lesekreis“. Dieser Text erschien zuerst ungekürzt auf mosaik-blog.at