Warum Europas Brutvögel nordwärts ziehen
Umweltindikatoren. Nach beinahe einem Vierteljahrhundert zeigt der neue europäische Brutvogelatlas Licht und Schatten; er belegt auch, wie es der Umwelt geht. 120.000 Freiwillige haben Abermillionen Daten zusammengetragen.
Wien. Die ornithologische Kleinarbeit, deren Ergebnis am Donnerstag in ganz Europa präsentiert wurde, ist in dieser Form weltweit einzigartig. Der gesamte Kontinent wurde in 50 mal 50 Kilometer große Landstriche aufgeteilt, 120.000 Vogelliebhaber sind ausgeschwärmt und haben mit der akribischen Arbeit begonnen: Welche Vogelart brütet wo? Gestartet wurde das Projekt vor zehn Jahren.
Sogar mehr als 30 Jahre ist es her, dass die erste europäische „Vogelinventur“begann, die dann 1993 publiziert wurde. Die Daten stammten aus einer Zeit, in der die Welt auch für Vögel grundsätzlich anders ausgesehen hat: Der Eiserne Vorhang teilte Europa. Der Todesstreifen quer durch den Kontinent durfte nicht bewirtschaftet werden, es entstanden Rückzugsgebiete für Flora und Fauna. Für Ornithologen blieben diese Gebiete weiße Flecken. Jetzt sind die Refugien großteils verschwunden – mit Ausnahme des innerdeutschen Grenzstreifens, der seither Biosphärenreservat ist.
Folgen heißeren Klimas
Verena Keller arbeitet an der Vogelwarte Sempach im Schweizer Kanton Luzern und ist eine der drei Koordinatorinnen des europäischen Brutvogelatlas: „Es lassen sich einige Trends ablesen. Insgesamt verlagern sich die Brutareale in Richtung Norden“, berichtet sie. Das sei zwar von Vogelart zu Vogelart verschieden, „aber es ist von einem Durchschnittswert von etwa 20 Kilometern auszugehen“. Ein Durchschnittswert über alle Arten – was wenig über die Situation einzelner aussagt. Während sich viele (noch) an höhere Temperaturen anpassen können, verlagern andere ihr Brutgebiet gleich um ein Vielfaches des Durchschnittswerts nach Norden. Und im Süden Europas geht Lebensraum wegen fortschreitender Trockenheit verloren. „Die Habitate der Vögel verlagern sich bergwärts – wenn dieser Lebensraum vorhanden ist.“In Gebirgen, die nicht so hoch hinaufragen, gehe das nicht, etwa in den Pyrenäen. Pech für das Schneehuhn.
Zurückzuführen sind diese Verlagerungen auf das deutlich heißer gewordene Klima. Auf mehr als 5100 Quadranten in 48 Ländern wurden 596 Brutvogelarten kartiert. Bei 135 Arten gibt es ein schrumpfendes Verbreitungsgebiet – unter ihnen Großtrappe, Blauracke und Ortolan. Mehr als die Hälfte aller europäischer Brutvogelarten kommen nur in sehr kleinen Teilen Europas vor.
Festzustellen ist nicht nur Schatten, sondern auch Licht. Verena Keller: „Die Erhebung zeigt auch deutlich, dass Schutzgebiete ihrem Zweck gerecht werden.“Die Expertin hebt internationale Abkommen hervor, die dafür sorgen, dass die Lebensräume von gefährdeten Vogelarten – etwa Seeadlern und Silberreihern – gesichert und ausgeweitet werden.
In Österreich haben 1900 Vogelfreunde 1,5 Millionen Daten kartiert. Außerdem laufe in Österreich eine besonders feinmaschige Auswertung. Teufelbauer: „Mit Ergebnissen wird 2022 zu rechnen sein.“Schon jetzt sei jedenfalls erkennbar, dass sich die Ausbreitung der Arten nordwärts verlagert.
Der europäische Atlas ist eine Momentaufnahme. Teufelbauer: „Wir haben Punkte auf der Landkarte und wissen nur, ob dort eine bestimmte Vogelart brütet oder nicht – wir können nicht sagen, wie viele dieser Vögel dort leben.“
Die Informationen über Bestandsveränderungen liefern jährliche Vogelzählungen, die etwa in der Schweiz und Österreich lange Tradition haben. Der Experte berichtet bei der Zählung in Österreich von ähnlichen Trends, die auch der europäische Atlas zeigt.
„Besonders Vögel auf landwirtschaftlich genutzten Flächen stehen unter Druck. Der FarmlandBird-Index zeigt, wie sich Bestände von Arten auf agrarisch genutzten Flächen verändern. Verglichen mit 1998 ist dieser Index auf 63 bis 55 Prozent gesunken.“Es gibt heute also etwa 40 Prozent weniger Vogelarten in landwirtschaftlich genutzten Flächen als vor gut 20 Jahren. Konkret setzt das Feldlerche, Rebhuhn, Kiebitz und Braunkehlchen zu. Ursache: Intensivlandwirtschaft.
Mehr Inseln und Naturflächen
Während sich hierzulande bei Waldvogelarten keine signifikanten Auswirkungen zeigen, sind in Nordeuropa deutliche Unterschiede zu erkennen. Dort, im finnischrussischen Grenzgebiet und auf der Halbinsel Kola, hat Keller Kartierungen gemacht: „Auf der finnischen Seite gibt es großflächige Kahlschläge und Monokulturen, während die Wälder auf der russischen Seite in viel natürlicherem Zustand sind. Das zeigt sich auch am Vogelbestand: Die Artenvielfalt ist höher, es gibt auf der russischen Seite mehr Lebensraum für Spezialisten unter den Vögeln.“
Deshalb fordert Teufelbauer weitere „Biodiversitätsinseln“als Refugien für potenziell oder tatsächlich bedrohte Arten. Sie werden derzeit lediglich in Bundesforste-Wäldern umgesetzt. Wichtig sei auch, dass ein Zehntel aller Landwirtschaftszonen Naturflächen würden, wo Insekten und Vögel Nahrung und Schutz finden. Hier sei die Förderpolitik umzugestalten, um naturverträglichere Landwirtschaft zu begünstigen. „Auf EU-Ebene ist das vor Kurzem erst versäumt worden.“
Langfassung: www.diepresse.com/ausland