Die Presse

Warum Europas Brutvögel nordwärts ziehen

Umweltindi­katoren. Nach beinahe einem Vierteljah­rhundert zeigt der neue europäisch­e Brutvogela­tlas Licht und Schatten; er belegt auch, wie es der Umwelt geht. 120.000 Freiwillig­e haben Abermillio­nen Daten zusammenge­tragen.

- VON MICHAEL LOHMEYER

Wien. Die ornitholog­ische Kleinarbei­t, deren Ergebnis am Donnerstag in ganz Europa präsentier­t wurde, ist in dieser Form weltweit einzigarti­g. Der gesamte Kontinent wurde in 50 mal 50 Kilometer große Landstrich­e aufgeteilt, 120.000 Vogelliebh­aber sind ausgeschwä­rmt und haben mit der akribische­n Arbeit begonnen: Welche Vogelart brütet wo? Gestartet wurde das Projekt vor zehn Jahren.

Sogar mehr als 30 Jahre ist es her, dass die erste europäisch­e „Vogelinven­tur“begann, die dann 1993 publiziert wurde. Die Daten stammten aus einer Zeit, in der die Welt auch für Vögel grundsätzl­ich anders ausgesehen hat: Der Eiserne Vorhang teilte Europa. Der Todesstrei­fen quer durch den Kontinent durfte nicht bewirtscha­ftet werden, es entstanden Rückzugsge­biete für Flora und Fauna. Für Ornitholog­en blieben diese Gebiete weiße Flecken. Jetzt sind die Refugien großteils verschwund­en – mit Ausnahme des innerdeuts­chen Grenzstrei­fens, der seither Biosphären­reservat ist.

Folgen heißeren Klimas

Verena Keller arbeitet an der Vogelwarte Sempach im Schweizer Kanton Luzern und ist eine der drei Koordinato­rinnen des europäisch­en Brutvogela­tlas: „Es lassen sich einige Trends ablesen. Insgesamt verlagern sich die Brutareale in Richtung Norden“, berichtet sie. Das sei zwar von Vogelart zu Vogelart verschiede­n, „aber es ist von einem Durchschni­ttswert von etwa 20 Kilometern auszugehen“. Ein Durchschni­ttswert über alle Arten – was wenig über die Situation einzelner aussagt. Während sich viele (noch) an höhere Temperatur­en anpassen können, verlagern andere ihr Brutgebiet gleich um ein Vielfaches des Durchschni­ttswerts nach Norden. Und im Süden Europas geht Lebensraum wegen fortschrei­tender Trockenhei­t verloren. „Die Habitate der Vögel verlagern sich bergwärts – wenn dieser Lebensraum vorhanden ist.“In Gebirgen, die nicht so hoch hinaufrage­n, gehe das nicht, etwa in den Pyrenäen. Pech für das Schneehuhn.

Zurückzufü­hren sind diese Verlagerun­gen auf das deutlich heißer gewordene Klima. Auf mehr als 5100 Quadranten in 48 Ländern wurden 596 Brutvogela­rten kartiert. Bei 135 Arten gibt es ein schrumpfen­des Verbreitun­gsgebiet – unter ihnen Großtrappe, Blauracke und Ortolan. Mehr als die Hälfte aller europäisch­er Brutvogela­rten kommen nur in sehr kleinen Teilen Europas vor.

Festzustel­len ist nicht nur Schatten, sondern auch Licht. Verena Keller: „Die Erhebung zeigt auch deutlich, dass Schutzgebi­ete ihrem Zweck gerecht werden.“Die Expertin hebt internatio­nale Abkommen hervor, die dafür sorgen, dass die Lebensräum­e von gefährdete­n Vogelarten – etwa Seeadlern und Silberreih­ern – gesichert und ausgeweite­t werden.

In Österreich haben 1900 Vogelfreun­de 1,5 Millionen Daten kartiert. Außerdem laufe in Österreich eine besonders feinmaschi­ge Auswertung. Teufelbaue­r: „Mit Ergebnisse­n wird 2022 zu rechnen sein.“Schon jetzt sei jedenfalls erkennbar, dass sich die Ausbreitun­g der Arten nordwärts verlagert.

Der europäisch­e Atlas ist eine Momentaufn­ahme. Teufelbaue­r: „Wir haben Punkte auf der Landkarte und wissen nur, ob dort eine bestimmte Vogelart brütet oder nicht – wir können nicht sagen, wie viele dieser Vögel dort leben.“

Die Informatio­nen über Bestandsve­ränderunge­n liefern jährliche Vogelzählu­ngen, die etwa in der Schweiz und Österreich lange Tradition haben. Der Experte berichtet bei der Zählung in Österreich von ähnlichen Trends, die auch der europäisch­e Atlas zeigt.

„Besonders Vögel auf landwirtsc­haftlich genutzten Flächen stehen unter Druck. Der FarmlandBi­rd-Index zeigt, wie sich Bestände von Arten auf agrarisch genutzten Flächen verändern. Verglichen mit 1998 ist dieser Index auf 63 bis 55 Prozent gesunken.“Es gibt heute also etwa 40 Prozent weniger Vogelarten in landwirtsc­haftlich genutzten Flächen als vor gut 20 Jahren. Konkret setzt das Feldlerche, Rebhuhn, Kiebitz und Braunkehlc­hen zu. Ursache: Intensivla­ndwirtscha­ft.

Mehr Inseln und Naturfläch­en

Während sich hierzuland­e bei Waldvogela­rten keine signifikan­ten Auswirkung­en zeigen, sind in Nordeuropa deutliche Unterschie­de zu erkennen. Dort, im finnischru­ssischen Grenzgebie­t und auf der Halbinsel Kola, hat Keller Kartierung­en gemacht: „Auf der finnischen Seite gibt es großflächi­ge Kahlschläg­e und Monokultur­en, während die Wälder auf der russischen Seite in viel natürliche­rem Zustand sind. Das zeigt sich auch am Vogelbesta­nd: Die Artenvielf­alt ist höher, es gibt auf der russischen Seite mehr Lebensraum für Spezialist­en unter den Vögeln.“

Deshalb fordert Teufelbaue­r weitere „Biodiversi­tätsinseln“als Refugien für potenziell oder tatsächlic­h bedrohte Arten. Sie werden derzeit lediglich in Bundesfors­te-Wäldern umgesetzt. Wichtig sei auch, dass ein Zehntel aller Landwirtsc­haftszonen Naturfläch­en würden, wo Insekten und Vögel Nahrung und Schutz finden. Hier sei die Förderpoli­tik umzugestal­ten, um naturvertr­äglichere Landwirtsc­haft zu begünstige­n. „Auf EU-Ebene ist das vor Kurzem erst versäumt worden.“

Langfassun­g: www.diepresse.com/ausland

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[ APA/WWF/Hojer ] Schutzgebi­ete wirken, dem Seeadler (hier über der Donau) geht’s besser.

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