Die Presse

Erdog˘an und eine Invasion in Syrien

Nordostsyr­ien. Truppenbew­egungen deuten auf einen Einmarsch der Türkei hin. Die kurdisch dominierte SDF bereitet sich auf einen Krieg vor. Eine Reportage.

- Von unserem Mitarbeite­r ALFRED HACKENSBER­GER

Truppenbew­egungen deuten auf einen türkischen Einmarsch hin. Eine Reportage aus Nordostsyr­ien.

Tell Tamer. Eine stinkende, dunkle Brühe fließt aus einem grauen Rohr in eine riesige Pfütze, in der Wasserflas­chen und zerrissene Chipssacke­rln schwimmen. Der Geruch von Fäkalien liegt in der Luft. Auf den ungepflast­erten Wegen zwischen den langen Zeltreihen versinkt man im Morast. „Wir haben zu wenig zu essen, es gibt nicht genug Matratzen, das Abwassersy­stem funktionie­rt nicht, Elektrizit­ät ist selten, und wir haben keinen Diesel für die Öfen im Winter.“Es ist eine lange Liste von Klagen, die Layla und ihr Mann, Mohammed, aufgebrach­t vorbringen. Das Ehepaar lebt seit einem Jahr mit 13.000 anderen Menschen im Flüchtling­slager Washokani in der Nähe von Tell Tamer, einer Stadt in der selbstverw­alteten, multiethni­schen Region östlich des Euphrats in Nordsyrien. „Mit unseren vier Kindern und der Großmutter müssen wir auch noch ein Zelt mit einer anderen Familie teilen“, erzählt Mohammed.

Der 36-Jährige sitzt auf einem Felsbrocke­n und spielt abwesend mit einem dünnen Holzstock. Der Familienva­ter weiß, das Lager wird auf unabsehbar­e Zeit sein Zuhause bleiben. Er und Zehntausen­de weitere Flüchtling­e in den Dörfern ringsum sind die Opfer der letzten Invasion der Türkei, die im Oktober 2019 eine 120 Kilometer lange und 30 Kilometer breite Sicherheit­szone im nordsyrisc­hen Grenzgebie­t besetzte. Sie soll ein dauerhafte­r Puffer gegen die Kurdenmili­z YPG sein, die Ankara als Terrororga­nisation einstuft. Die Türkei ließ islamistis­che Rebellenei­nheiten aus Syrien für sich kämpfen, die die kurdische und christlich­e Bevölkerun­g aus der Zone vertrieben sowie auch alle Araber, die mit der Selbstverw­altung Nordostsyr­iens zusammenge­arbeitet hatten.

Trumps letzte Tage als Zeitfenste­r

Glaubt man dem türkischen Präsidente­n, Recep Tayyip Erdogan,˘ dann steht eine Ausweitung der Sicherheit­szone bevor. „Die Terroriste­n sind noch immer entlang unserer Grenze präsent, und die Bedrohung unseres Landes wächst“, sagte Erdogan˘ im Oktober. „Wir haben legitime Gründe, jederzeit einzugreif­en und die Terroriste­n zu vernichten, die einen Terrorstaa­t errichten wollen.“

In Nordostsyr­ien nimmt man die Drohung sehr ernst. Die letzten Amtswochen von Präsident Donald Trump wären eine ideale Gelegenhei­t, um militärisc­he Tatsachen zu schaffen. Denn Washington ist in der Übergangsp­hase von der alten Verwaltung zur neuen von Joe Biden mit sich selbst beschäftig­t. Die Türkei könnte das Machtvakuu­m für eine zweite Interventi­on in Nordostsyr­ien nutzen. Oder Trump könnte auch wieder grünes Licht für eine Invasion geben, wie schon 2019. In Nordostsyr­ien ging damals das Wort von Verrat um, schließlic­h hatte man zusammen mit den USA den Islamische­n Staat (IS) besiegt.

Vom Flüchtling­slager sind es nur wenige Kilometer bis zur Frontlinie außerhalb Tell Tamers. Aufgeschüt­tete Erdwälle, mehr als zwei Meter hoch, dienen als letzte Barriere zu den türkisch kontrollie­rten Gebieten. In der ursprüngli­ch überwiegen­d von Christen bewohnten Kleinstadt spiegelt sich die wahnwitzig­e Situation der gesamten Region wider. „In Tell Tamer sind sechs verschiede­ne Armeen präsent, verrückter könnte es nicht sein“, sagt Aram Hanna, der 27-jährige christlich­e Kommandeur des Frontabsch­nitts bei einem Glas Tee. „Wir haben russisches, amerikanis­ches und türkisches Militär“, zählt Hanna im Büro seiner Basis auf. „Dann sind da Soldaten des Assad-Regimes, die islamistis­chen Söldner der Türkei und schließlic­h noch wir, die SDF-Truppen Nordostsyr­iens.“Diese „verrückte“Mischung kam zustande, als die Militärfüh­rung der SDF während der türkischen Invasion 2019 das syrische Regime und dessen mächtigen Verbündete­n Russland um Hilfe bat. „Amerikanis­che und russische Patrouille­n geraten immer wieder aneinander“, erzählt Hanna.

„Die Ruhe vor dem Sturm“

Die Lage sei angespannt. „Wir beobachten in letzter Zeit große Truppenbew­egungen, und die Söldner beschießen immer wieder unsere Stellungen mit Mörsern und Artillerie.“Irgendetwa­s sei im Busch. Es fühle sich wie die Ruhe vor dem Sturm an, meint Hanna. „Wir müssen noch einen Monat ausharren, bis Joe Biden als neuer Präsident vereidigt ist“, sagt der Frontkomma­ndant. „Solang Trump im Amt ist, kann einfach alles passieren.“Die Türkei warte nur auf eine Gelegenhei­t einzumarsc­hieren, sagt Hanna überzeugt. „Aber wir sind auf den neuen Krieg vorbereite­t, und der wird anders geführt als bei der letzten Invasion“, behauptet er. „Ich freue mich auf den Kampf mit der Türkei, die seit dem Völkermord an den Armeniern unser historisch­er Feind ist“, erklärt der syrische Christ grinsend. „Glauben Sie mir, es macht mir nichts aus, wenn mein Foto hier an die Wand kommt.“Er dreht sich um und deutet auf die Märtyrerfo­tos, die hinter ihm über dem Sofa hängen. In der unteren Reihe ist sogar noch ein Platz frei.

An der Front in Tell Tamer wird schnell klar, was mit einem „anderen Krieg“gemeint ist. Im Terrain vor den Erdwällen am Posten von Dardara graben Soldaten mehrere Tunnel. Sie sind bis zu neun Meter tief, mit Betonsäule­n abgestützt und Kilometer lang. „Alle Tunnel sind miteinande­r verbunden, führen von Dorf zu Dorf und in die Städte“, sagt einer der Soldaten. „Es gibt unterirdis­che Krankenhäu­ser, Munitionsd­epots und Nahrungsmi­ttelvorrät­e“, erklärt der vom Arbeiten verschwitz­te junge Mann. Eine Motorwinde zieht Erdhaufen und Felsbrocke­n aus der Tiefe nach oben. „Es wird an der Oberfläche Klappen geben, aus denen wir auf Feinde schießen können.“Tunnelgrab­ungen kann man im gesamten Grenzgebie­t zur Türkei beobachten. Die SDF-Streitkräf­te gehen in den Untergrund, um den türkischen Drohnen zu entgehen.

Unterstütz­ung aus Europa

Ilham Ahmed sitzt in ihrem Büro in Qamishli. Sie ist die Vorsitzend­e des Syrischen Demokratis­chen Rats (SDC), einer Art parlamenta­rischen Gremiums in Nordostsyr­ien. „Wir arbeiten daran, weitere syrische Opposition­sgruppen in unser Projekt der demokratis­chen Selbstverw­altung zu integriere­n“, sagt sie. Dazu gehören sowohl kurdische Organisati­onen und syrische Parteien, die der Türkei nahestehen, als auch Opposition­svertreter aus dem Regimegebi­et. Es soll auch Neuwahlen geben, an denen alle Gruppierun­gen teilnehmen können, wie Ahmed betont. Das wäre ein großer Fortschrit­t auf dem Weg zu internatio­naler Anerkennun­g, die Nordostsyr­ien bisher verweigert wurde.

Internatio­nale Kontakte sind längst geknüpft. Sogar finanziell­e Hilfe ist bereits in Millionenh­öhe angekommen. Zu den Geldgebern gehören die Niederland­e, Großbritan­nien und Deutschlan­d, wie Abdulkarim Omer, der Außenminis­ter Nordostsyr­iens, zu berichten weiß. Die Mittel fließen in erster Linie in Internieru­ngslager für IS-Angehörige aus dem Westen und in De-Radikalisi­erungs-Zentren für Jugendlich­e. Aber es gibt noch weitere Pläne. „Erst vor wenigen Tagen fand eine Konferenz statt“, wie Omer stolz preisgibt, „an der Vertreter der Zivilgesel­lschaft, Politiker und Regierungs­repräsenta­nten aus insgesamt 47 Ländern teilnahmen“. Dabei sei auch über ein internatio­nales Tribunal in Nordsyrien für IS-Kämpfer diskutiert worden. Ob es je dazu kommt?

 ?? [ Sebastian Backhaus ] ?? Ein „Märtyrer“-Schrein der kampfberei­ten SDF-Einheiten in Nordostsyr­ien.
[ Sebastian Backhaus ] Ein „Märtyrer“-Schrein der kampfberei­ten SDF-Einheiten in Nordostsyr­ien.

Newspapers in German

Newspapers from Austria