Erdog˘an und eine Invasion in Syrien
Nordostsyrien. Truppenbewegungen deuten auf einen Einmarsch der Türkei hin. Die kurdisch dominierte SDF bereitet sich auf einen Krieg vor. Eine Reportage.
Truppenbewegungen deuten auf einen türkischen Einmarsch hin. Eine Reportage aus Nordostsyrien.
Tell Tamer. Eine stinkende, dunkle Brühe fließt aus einem grauen Rohr in eine riesige Pfütze, in der Wasserflaschen und zerrissene Chipssackerln schwimmen. Der Geruch von Fäkalien liegt in der Luft. Auf den ungepflasterten Wegen zwischen den langen Zeltreihen versinkt man im Morast. „Wir haben zu wenig zu essen, es gibt nicht genug Matratzen, das Abwassersystem funktioniert nicht, Elektrizität ist selten, und wir haben keinen Diesel für die Öfen im Winter.“Es ist eine lange Liste von Klagen, die Layla und ihr Mann, Mohammed, aufgebracht vorbringen. Das Ehepaar lebt seit einem Jahr mit 13.000 anderen Menschen im Flüchtlingslager Washokani in der Nähe von Tell Tamer, einer Stadt in der selbstverwalteten, multiethnischen Region östlich des Euphrats in Nordsyrien. „Mit unseren vier Kindern und der Großmutter müssen wir auch noch ein Zelt mit einer anderen Familie teilen“, erzählt Mohammed.
Der 36-Jährige sitzt auf einem Felsbrocken und spielt abwesend mit einem dünnen Holzstock. Der Familienvater weiß, das Lager wird auf unabsehbare Zeit sein Zuhause bleiben. Er und Zehntausende weitere Flüchtlinge in den Dörfern ringsum sind die Opfer der letzten Invasion der Türkei, die im Oktober 2019 eine 120 Kilometer lange und 30 Kilometer breite Sicherheitszone im nordsyrischen Grenzgebiet besetzte. Sie soll ein dauerhafter Puffer gegen die Kurdenmiliz YPG sein, die Ankara als Terrororganisation einstuft. Die Türkei ließ islamistische Rebelleneinheiten aus Syrien für sich kämpfen, die die kurdische und christliche Bevölkerung aus der Zone vertrieben sowie auch alle Araber, die mit der Selbstverwaltung Nordostsyriens zusammengearbeitet hatten.
Trumps letzte Tage als Zeitfenster
Glaubt man dem türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan,˘ dann steht eine Ausweitung der Sicherheitszone bevor. „Die Terroristen sind noch immer entlang unserer Grenze präsent, und die Bedrohung unseres Landes wächst“, sagte Erdogan˘ im Oktober. „Wir haben legitime Gründe, jederzeit einzugreifen und die Terroristen zu vernichten, die einen Terrorstaat errichten wollen.“
In Nordostsyrien nimmt man die Drohung sehr ernst. Die letzten Amtswochen von Präsident Donald Trump wären eine ideale Gelegenheit, um militärische Tatsachen zu schaffen. Denn Washington ist in der Übergangsphase von der alten Verwaltung zur neuen von Joe Biden mit sich selbst beschäftigt. Die Türkei könnte das Machtvakuum für eine zweite Intervention in Nordostsyrien nutzen. Oder Trump könnte auch wieder grünes Licht für eine Invasion geben, wie schon 2019. In Nordostsyrien ging damals das Wort von Verrat um, schließlich hatte man zusammen mit den USA den Islamischen Staat (IS) besiegt.
Vom Flüchtlingslager sind es nur wenige Kilometer bis zur Frontlinie außerhalb Tell Tamers. Aufgeschüttete Erdwälle, mehr als zwei Meter hoch, dienen als letzte Barriere zu den türkisch kontrollierten Gebieten. In der ursprünglich überwiegend von Christen bewohnten Kleinstadt spiegelt sich die wahnwitzige Situation der gesamten Region wider. „In Tell Tamer sind sechs verschiedene Armeen präsent, verrückter könnte es nicht sein“, sagt Aram Hanna, der 27-jährige christliche Kommandeur des Frontabschnitts bei einem Glas Tee. „Wir haben russisches, amerikanisches und türkisches Militär“, zählt Hanna im Büro seiner Basis auf. „Dann sind da Soldaten des Assad-Regimes, die islamistischen Söldner der Türkei und schließlich noch wir, die SDF-Truppen Nordostsyriens.“Diese „verrückte“Mischung kam zustande, als die Militärführung der SDF während der türkischen Invasion 2019 das syrische Regime und dessen mächtigen Verbündeten Russland um Hilfe bat. „Amerikanische und russische Patrouillen geraten immer wieder aneinander“, erzählt Hanna.
„Die Ruhe vor dem Sturm“
Die Lage sei angespannt. „Wir beobachten in letzter Zeit große Truppenbewegungen, und die Söldner beschießen immer wieder unsere Stellungen mit Mörsern und Artillerie.“Irgendetwas sei im Busch. Es fühle sich wie die Ruhe vor dem Sturm an, meint Hanna. „Wir müssen noch einen Monat ausharren, bis Joe Biden als neuer Präsident vereidigt ist“, sagt der Frontkommandant. „Solang Trump im Amt ist, kann einfach alles passieren.“Die Türkei warte nur auf eine Gelegenheit einzumarschieren, sagt Hanna überzeugt. „Aber wir sind auf den neuen Krieg vorbereitet, und der wird anders geführt als bei der letzten Invasion“, behauptet er. „Ich freue mich auf den Kampf mit der Türkei, die seit dem Völkermord an den Armeniern unser historischer Feind ist“, erklärt der syrische Christ grinsend. „Glauben Sie mir, es macht mir nichts aus, wenn mein Foto hier an die Wand kommt.“Er dreht sich um und deutet auf die Märtyrerfotos, die hinter ihm über dem Sofa hängen. In der unteren Reihe ist sogar noch ein Platz frei.
An der Front in Tell Tamer wird schnell klar, was mit einem „anderen Krieg“gemeint ist. Im Terrain vor den Erdwällen am Posten von Dardara graben Soldaten mehrere Tunnel. Sie sind bis zu neun Meter tief, mit Betonsäulen abgestützt und Kilometer lang. „Alle Tunnel sind miteinander verbunden, führen von Dorf zu Dorf und in die Städte“, sagt einer der Soldaten. „Es gibt unterirdische Krankenhäuser, Munitionsdepots und Nahrungsmittelvorräte“, erklärt der vom Arbeiten verschwitzte junge Mann. Eine Motorwinde zieht Erdhaufen und Felsbrocken aus der Tiefe nach oben. „Es wird an der Oberfläche Klappen geben, aus denen wir auf Feinde schießen können.“Tunnelgrabungen kann man im gesamten Grenzgebiet zur Türkei beobachten. Die SDF-Streitkräfte gehen in den Untergrund, um den türkischen Drohnen zu entgehen.
Unterstützung aus Europa
Ilham Ahmed sitzt in ihrem Büro in Qamishli. Sie ist die Vorsitzende des Syrischen Demokratischen Rats (SDC), einer Art parlamentarischen Gremiums in Nordostsyrien. „Wir arbeiten daran, weitere syrische Oppositionsgruppen in unser Projekt der demokratischen Selbstverwaltung zu integrieren“, sagt sie. Dazu gehören sowohl kurdische Organisationen und syrische Parteien, die der Türkei nahestehen, als auch Oppositionsvertreter aus dem Regimegebiet. Es soll auch Neuwahlen geben, an denen alle Gruppierungen teilnehmen können, wie Ahmed betont. Das wäre ein großer Fortschritt auf dem Weg zu internationaler Anerkennung, die Nordostsyrien bisher verweigert wurde.
Internationale Kontakte sind längst geknüpft. Sogar finanzielle Hilfe ist bereits in Millionenhöhe angekommen. Zu den Geldgebern gehören die Niederlande, Großbritannien und Deutschland, wie Abdulkarim Omer, der Außenminister Nordostsyriens, zu berichten weiß. Die Mittel fließen in erster Linie in Internierungslager für IS-Angehörige aus dem Westen und in De-Radikalisierungs-Zentren für Jugendliche. Aber es gibt noch weitere Pläne. „Erst vor wenigen Tagen fand eine Konferenz statt“, wie Omer stolz preisgibt, „an der Vertreter der Zivilgesellschaft, Politiker und Regierungsrepräsentanten aus insgesamt 47 Ländern teilnahmen“. Dabei sei auch über ein internationales Tribunal in Nordsyrien für IS-Kämpfer diskutiert worden. Ob es je dazu kommt?