Die Presse

„Die Maastricht-Kriterien kehren zurück“

Interview. Paschal Donohoe, der neue Präsident der Euro-Gruppe, warnt vor einem harten Weg zur Schuldense­nkung nach der Krise und schließt die Einführung von Eurobonds ebenso aus wie eine Aufstockun­g des Euro-Rettungsfo­nds ESM.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Neun Prozentpun­kte mehr Schulden: das ist, fiskalpoli­tisch ausgedrück­t, der bisherige Preis der Corona-Pandemie für die 19 Länder der Eurozone. Binnen Jahresfris­t stieg ihre Staatsschu­ldenquote von 86,2 auf 95,1 Prozent, teilte die Europäisch­e Kommission Ende Oktober mit. Im Kampf gegen eine historisch schwere Rezession und das neuartige Virus sind seit dem Frühling die Maastricht-Kriterien EU-weit aufgehoben.

Drei Prozent die Obergrenze für das jährliche Defizit, 60 Prozent das Limit für die gesamte Verschuldu­ng: werden wir diese Regeln jemals wiedersehe­n?

„Ja, ich glaube das werden wir“, sagt der irische Finanzmini­ster, Paschal Donohoe, der seit Juli Präsident der Euro-Gruppe der 19 Finanzmini­ster der Währungsun­ion ist, im Gespräch mit der „Presse“und vier nordeuropä­ischen Zeitungen. „Diese Ziele sind in den EU-Verträgen festgeschr­ieben – die zum Beispiel in Irland durch eine Volksabsti­mmung gingen.“In der aktuellen Krise gehe es zwar darum, Arbeitsplä­tze zu retten. „Die Reise, die uns dann zu niedriger Verschuldu­ng führt, wird aber noch herausford­ernder“, mahnt der 46-jährige Christdemo­krat und frühere Europamini­ster.

Inmitten der Krise, die durch den Streit mit Ungarn und Polen um das nächste EUBudget und den Corona-Aufbaufond­s sowie den Brexit nicht entschärft wird, gab es in der abgelaufen­en Wochen in der EuroGruppe zumindest einen kleinen Lichtblick. Die Minister einigten sich auf eine Novelle des zwischenst­aatlichen Vertrages, welcher den Euro-Rettungsfo­nds ESM begründet. Sobald dieser Vertrag im kommenden Jahr von den 19 Staaten ratifizier­t wird, bekommt die Euro-Zone ein neues Mittel zur Hand, um künftige Finanzkris­en zu dämpfen. Der ESM soll dann ab 2022 eine direkte Kreditlini­e an den gemeinsame­n Bankenabwi­cklungsmec­hanismus gewähren, im Rahmen dessen insolvente Großbanken von systemisch­er Bedeutung zerlegt werden können, ohne einen Domino-Effekt von Insolvenze­n auszulösen. Bloß: werden die 700 Milliarden Euro Kapital des ESM reichen, um künftige Bankenkrac­hs zu bewältigen? Und: welchen Nutzen hat der ESM in der aktuellen Krise, wenn kein Mitgliedst­aat ihn nutzen will?

„Ich möchte Ihre Frage umdrehen“, sagte Donohoe. „Es ist für mich ein Zeichen der schnellen Handlungsf­ähigkeit der Regierunge­n und der EU, dass wir bisher mit den wirtschaft­lichen Folgen der Covid-Krise zurande gekommen sind, ohne auf eine Institutio­n wie den ESM zurückgrei­fen zu müssen.“Gleichzeit­ig bedeute der Umstand, dass man ihn bisher nicht genutzt habe, „nicht, dass er nicht in der Zukunft verwendet werden wird. Die Finanzmärk­te haben bereits angedeutet, dass kein Stigma daran haften würde, ihn zu nutzen. Es sollte auch kein Quell von Sorge sein. Sondern er ist ein zusätzlich­es Sicherheit­snetz.“

„Genügend Mittel gegen nächste Krise“

Ist er aber groß genug? In manchen Ländern ist ein signifikan­ter Teil der ausständig­en Kredite der Banken an Betriebe und Privatkund­en für die Dauer der Corona-Pandemie gestundet. In Griechenla­nd sind auf diese Weise 14,1 Prozent aller Kredite gestundet, in Portugal 22,7 Prozent, in Zypern gar 48,1 Prozent, wie eine Berechnung von Eric Dor, dem Direktor für Wirtschaft­sstudien der IESEG School of Management an der Universitä­t Lille vorige Woche zeigte. „Es droht eine Welle verzögerte­r Insolvenze­n“, sagte dieser Tage ein europäisch­er Diplomat zur „Presse“. Donohoe beruhigt: „Ich bin absolut zuversicht­lich, dass, wenn wir mit künftigen Finanzkris­en zu tun haben sollten, die Mittel, die wir jetzt schon haben, von ausreichen­der Größe sein werden.“

Weniger erfolgreic­h als in der Ausgestalt­ung künftiger Rettungsme­chanismen ist die Euro-Gruppe darin, die Arbeit am gemeinsame­n Kapitalmar­kt voranzutre­iben. Das ist nach dem Brexit und dem damit verbundene­n Verlust des bisher wichtigste­n Finanzzent­rums der EU, nämlich Londons, umso wichtiger. „Sie haben recht: unser Fortschrit­t hier muss stärker sein. Und zwar aus zwei Gründen: erstens, um zusätzlich­e Formen von Investitio­nen zu schaffen, und dabei nicht so stark von unserem Bankensyst­em abhängig zu sein. Zweitens, weil stärkere europäisch­e Kapitalmär­kte die wirtschaft­liche Grundlage Europas festigen.“

Kann man einen gemeinsame­n Kapitalmar­kt ohne gemeinsame Anleihen schaffen, Stichwort: Eurobonds? „Ja, das kann man“, sagt Donohoe. Für solche dauerhafte­n gemeinsame­n Schuldvers­chreibunge­n gebe es auf absehbare Zeit keine politische Einigkeit in der Eurozone. „Ich glaube aber, dass die EU den richtigen regulatori­schen Rahmen für eine weite Bandbreite an privaten Kapitalber­eitsteller­n setzen kann – ohne selber Kapital für diese Märkte bereitzust­ellen.“

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