Das Glück der Leserin
Frauen. Der Anblick von lesenden Frauen ist reizvoll und aufregend, die Intimität zwischen Buch und Leserin verzaubernd. Ein neues Buch zeigt das Lesen als Teil weiblichen Lebens.
Ruhig und konzentriert steht die Frau aufrecht vor uns. Sie blickt auf eine Papyrusrolle, die sie in den Händen hält, lesend strahlt sie innere Ruhe aus. Man kann sich dieses Bild auf einer attischen Vase aus dem 5. Jahrhundert vor Christus in der Antikenabteilung des Louvre ansehen. Die Frau ist offenbar keine Muse, Priesterin oder mythologische Gestalt. Sie steht hier in ihrem privaten Raum, neben ihr eine geöffnete Truhe, der Bewahrungsort für die teuren und empfindlichen Papyrusrollen. Das weist darauf hin, dass sie mehr von dem kostbaren Gut besitzt. Wir haben es mit einer gebildeten, selbstbewussten Frau aus dem Athen der klassischen Zeit zu tun.
Wollte sie sich weiterbilden, hat sie jemandem vorgelesen, Unterricht erteilt? Abbildungen wie diese sind jedenfalls Hinweise darauf, dass weibliche Lebenswelten in der griechischen Antike anders aussahen, als sie früher oft dargestellt wurden, dass lesende Frauen keine Seltenheit waren. Neben Singen und Tanzen gehörte auch das Lesen und Schreiben zur Mädchenerziehung, zur Vorbereitung auf das Leben als Ehefrau. In klassischer Zeit konnte man in Athen mehrheitlich lesen, die Buchrollen waren aus dem Alltag schwer wegzudenken. Die Dichterin Sappho wurde als Lyrikerin und als Erzieherin von Mädchen verehrt.
„Ich lese die Vasenbilder als Wertschätzung weiblicher Lebenswelten“, schreibt die auf Frauengeschichte spezialisierte Autorin Monika Hinterberger in ihrem historischen Streifzug auf den Spuren lesender Frauen. Es reicht eine kleine, attische Vase, um einen ganzen Kosmos weiblicher Lebenswelten zu eröffnen. Wobei sich die Autorin durchaus bewusst ist, dass Bilder wie die, die sie ausgewählt hat, nicht immer die gesamte Lebenswirklichkeit von Frauen einer Epoche widerspiegeln, sondern auch Wunschbilder einer idealen Frauenwelt sein können. „Das Bild einer in ihre Lektüre vertieften Frau auf einer Vase mag die Helleninnen ermutigt und inspiriert haben, den Faden einer weiblichen Lebensgeschichte weiterzuspinnen“, schreibt die Autorin.
Genau das macht Monika Hinterberger in ihrem Buch, wenn sie anhand von zehn ausgewählten Bildmotiven lesender Frauen aus verschiedenen Epochen die Geschichte weiterführt, durchaus auch subjektiv, wie sie zugibt: „Ich geselle mich zu ihnen, versuche ihnen zuzuhören.“Unzählige Bilder von lesenden Frauen, quer durch die Geschichte, zeigen nämlich: Lesen war Teil weiblichen Lebens. Es bescherte Glücksgefühle. Welche Lebenswelten, welche Bildungswege steckten dahinter? Welche Bücher lasen Frauen, mit welchen Erwartungen?
Ohne geschriebenes Wort wäre die Verbreitung des Christentums undenkbar gewesen. Aus der kirchlichen Hierarchie waren die Frauen ausgesperrt, doch durch ihr spirituelles Leben trugen Frauengemeinschaften zur Verbreitung der Lehre bei. Wo sie vor verschlossenen Türen standen, betraten sie eigene Wege. Nicht zufällig wurde die lesende Frau auch in der Kunst des Mittelalters zum Bildthema, vor allem natürlich die lesende Jungfrau Maria. Ein Kapitel des Buches zeigt eine Tafelmalerei, auf der Marias Mutter, Anna, ihr ernst und hingebungsvoll das Lesen beibringt, abgesehen vom religiösen Inhalt ein schönes Mutter-Tochter-Sujet in mittelalterlicher Lebenswelt, ein Widerschein der Wirklichkeit, in der Mütter ihre Töchter unterwiesen, wenn ein Schulbesuch nicht möglich war.
Ein Weg zum selbstbestimmten Leben
Bücher waren unverzichtbar, für das Gebet, die spirituelle Sammlung, sie waren geistige Nahrung. Bilder zeigen die lesenden Frauen im Zustand gnadenreicher Erleuchtung. Fünfzig Philosophen redete die gebildete Katharina von Alexandrien an die Wand, so die Legende. Die Heilige wurde daher die Schutzpatronin mittelalterlicher Universitäten. Sie erhielten den Namen Alma Mater.
Lesen zu können war ein privilegierter Zustand, denn es bedurfte der Muße. Es konnte helfen, den Lebensalltag besser zu bewältigen, es eröffnete langfristig die Chance, den Horizont zu erweitern, von der rein frommen Lektüre auf Lateinisch hin zur weltlichen Literatur in der Volkssprache. Je höher der Wissensstand, desto mehr Wege taten sich auf, um ein selbstbestimmteres Leben zu führen. Allmählich wird der Unterschied deutlich: Zeigten die frühen Bilder Frauen, die in sehnsüchtiger Verklärung von ihrer Lektüre aufschauten, sieht man nun die Entschlossenheit, nicht mehr alles hinzunehmen.
Margarete von Österreich, aus der Ehe Kaiser Maximilians I. mit Maria von Burgund, besaß um 1520 eine umfangreiche Bibliothek in ihrer niederländischen Residenz, neben Handschriften gab es jetzt bereits gedruckte Werke. Sie selbst schrieb gern Gedichte und zog sich zum Lesen in ihr Studiolo, ein kleines Lesezimmer, zurück.
Besonders schätzte sie die Schriften von Christine de Pizan, einer klugen und unerschrockenen Autorin des späten Mittelalters, die wegen ihrer Intellektualität von Männern ehrverletzende Angriffe erntete. Die wache Beobachterin ihrer Zeit, die unermüdlich schrieb, war die Lieblingsautorin vieler adeliger Frauen der damaligen Zeit. Männer hatten ihr oft nur misogyne und beleidigende Traktate entgegenzusetzen.
Frauen, die lasen, galten eben lange Zeit als gefährlich, sie konnten sich Wissen aneignen, in Fantasien und Ideen eintauchen, die nicht für sie bestimmt waren. Künstler waren jedenfalls fasziniert von Frauen, die tief in eine Lektüre versunken sind, man könnte ganze Bildbände damit füllen.
Im Italien der Renaissance zeichnete die Malerin Sofonisba Anguissola aus Cremona ein seltsames Frauenpaar: Ein noch junges Mädchen lächelt stolz, während sie einer älteren Frau, die ihre Großmutter sein könnte, das Lesen beibringt. Die alte Dame mit Brille auf dem Nasenrücken strengt sich merklich an, während sie zu entziffern versucht, was da auf einer Buchseite steht. Das Bild zeigt: Nicht nur die Buchdrucker profitierten von der wachsenden Leselust, auch die Optiker.
Doch warum sollte jemand in fortgeschrittenem Alter das Bedürfnis nach einem Leseerlebnis entwickeln? Die Buchlektüre eröffnete viele neue Chancen: Hilfe bei der Daseinsbewältigung, neue beglückende Erfahrungen, die Freisetzung eigener Gedanken und Ideen, ein erfüllteres Leben im Hier und Jetzt. Eine Spur von Glück, so die Autorin, die ihre Betrachtungen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, als Frauen an die Universitäten durften, weiterzieht, stets wissenschaftlich untermauert, aber nicht mit dem Charakter einer wissenschaftlichen Abhandlung.
Neidische Männer
Als Motto dient ein Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach: „Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt.“Die Autorin hätte zusätzlich auch einen Satz von Elke Heidenreich zitieren können: „Mit zunehmendem Alter werden die Bücher mitunter sogar wichtiger als die Männer“, schrieb sie einmal. Das hören Männer freilich gar nicht gern und blicken neidvoll auf den Zustand der Intimität, der sich zwischen Buch und Leserin ergeben kann. Derlei Ersatz ist unwillkommen.
„Lesen konnte Glück beinhalten“, so Hinterbergers Resümee, „Glück im Alleinsein, im Bewusstsein innerer Freiheit, im Erleben eigener Kreativität, in der Entdeckung neuer Welten. Die Hingabe an ein Buch, das Sichvertiefen in eine Lektüre, barg die Möglichkeit, über die eigene Wirklichkeit hinauszudenken. Im Lesen Glück zu erfahren.“Leicht vorstellbar, dass ein Buch wie dieses das ebenfalls ermöglicht.
Morgen in der „Presse am Sonntag“:
Die Geschichte-Seiten in der „Presse am Sonntag“bringen den mediterranen Frühling in den grauen Herbst: Wie die Zitrusfrüchte aus Italien den Norden eroberten. Ein bittersüßer Streifzug durch die Welt der Orangerien.