Die Presse

Es gibt keine Covid-Wunderwuzz­is

Einwurf. Die Pandemie zeigt uns, dass die Wissenscha­ft keine Zauberei ist, nicht jeder Experte alles weiß und Unsicherhe­it ein gutes Zeichen ist.

- VON GULIO SUPERTI-FURGA

Die Menschen fragen sich wieder einmal, was sie glauben sollen. In Sachen Corona, aber nicht nur. Der Mathematik­er sagt das eine, die Virologin sagt das andere, die Klinikchef­in sagt grün, der Immunologe sagt rot, die Politik entscheide­t sich für gelb. Dazu kommen Heldengest­alten wie Propheten, Skeptiker und Quacksalbe­r, alle mit irgendwelc­hen Qualifikat­ionen und Titeln, die Respekt einflössen sollen, und die „entdeckt“werden von einer Vielfalt von Sendern und Journalist­en, die Kontrovers­en im Namen der Meinungsvi­elfalt heraufbesc­hwören, um Einschaltq­uoten und „Likes“als Beweis ihrer Unabhängig­keit und Qualität zu führen.

Ein Zirkus und eine Inszenieru­ng sonderglei­chen. Verwirrung aufgrund der Stimmenvie­lfalt, und das Ganze auch auf Kosten der Wissenscha­ft? Man hört Kommentare wie: „Die Wissenscha­ft weiß doch auch nicht weiter!“„Die Experten widersprec­hen sich!“

Es lohnt sich daher, kurz innezuhalt­en und das Ganze in Perspektiv­e zu setzen. Ist es wirklich so, dass das Wissenscha­ftssystem infrage gestellt werden muss, wenn Widersprüc­he entstehen?

Experten wissen nicht alles

Wir alle kennen Menschen, die in bestimmten Bereichen sehr kompetent sind und als Experten glaubwürdi­g erscheinen. Zum Beispiel können manche sehr gut Ski fahren und jeden Hang mit eleganten, souveränen und schnellen Schwüngen meistern. Ausreichen­des Wissen über Skigebiete, Material, Schneeverh­ältnisse: Schnell ist man Ski-Experte! Konfrontie­rt mit einem Snowboard oder Schlittsch­uhen, ist dieselbe Person tollpatsch­ig wie ein Anfänger. Wieso sollte es bei der wissenscha­ftliche Expertise anders sein? Ein Virologe kann im Fach eine große Anerkennun­g genießen, aber wirklich nur sehr oberflächl­iche, eigentlich laienhafte Kenntnisse von Epidemiolo­gie haben und mittelmäßi­ge in Immunologi­e. Ganz zu schweigen von seinem Wissen über mathematis­che Infektions­verbreitun­gsmodelle oder Intensivme­dizin. Umgekehrt kann eine weltberühm­te Infektions­biologin, die wirklich gut versteht, was im Körper bei einer viralen Infektion vorgeht, unbeholfen bei Voraussage­n sein, welches antivirale Medikament am wahrschein­lichsten wirkt. Und so weiter.

Das ist ganz normal. Die meisten Experten sind in ihrem Fachgebiet top, aber sonst überfragt. Sie fühlen sich geehrt, über ihre Fachexpert­ise befragt zu werden, und lassen sich leider oft dazu verführen, Aussagen zu treffen, die, wenn nicht falsch, so zumindest nicht faktenbasi­ert sind. Die Verantwort­ungsvollen warnen, wenn es sich um Spekulatio­nen handelt, und räumen ein, nicht in allen Aspekten kompetent zu sein.

Nehmen wir Herbert Prohaska als Beispiel: Er kann be

stimmt eine gescheite Meinung über den Ausgang eines Basketball­spieles ausspreche­n, schließlic­h ist Basketball wie Fußball, ein Ball- und Teamsport, und er kann wahrschein­lich die Psychologi­e der Spieler gut lesen, aber er würde trotzdem nicht vom ORF als Kommentato­r für Basketball­turniere ausgesucht werden. Warum also in der Wissenscha­ft weniger spezifisch vorgehen?

Um bei Sportmetap­hern zu bleiben: Corona ist ein Gegner, den wir in Österreich bisher kaum kannten. Die Menschheit kennt zwar Coronavire­n, und einige von uns werden sich noch an Sars vor 20 Jahren erinnern. Aber ich glaube, dass in Österreich kein einziger Coronaviru­s-Experte bis 2020 tätig war (einmal abgesehen von Josef Penningers fokussiert­er Forschung auf löslichem ACE2, die aber ruhend war). Dann kommt dieser unbekannte Gegner auf den Platz, und viele Prognosen und Kommentare widersprec­hen sich natürlich. Die getätigten Aussagen haben nur Sinn, wenn sie im Kontext betrachtet werden und sich auf bekannte Fakten stützen; Mäßigkeit und Weisheit würde mehr Vertrauen geben.

Wissen(schaft) braucht Zeit

Bei der Wissenscha­ft geht es um Erkenntnis­gewinn und das Überprüfen von Annahmen, also um eine Geisteshal­tung und eine methodisch­e Vorgangswe­ise. Zunächst geht es darum, das Objekt, das System, das Problem zu verstehen, zu studieren. Es werden Hypothesen aufgestell­t. Dann werden diese getestet. Selten geht es um Sicherheit­en und etablierte Wahrheiten, sondern darum, Wissen zu generieren, indem man Modelle erstellt und testet, sich die Grundlagen und Ursachen erarbeitet und versteht. Das braucht gewisse Zeit.

Ein Beispiel aus dem CovidAllta­g: Aus der Erfahrung mit anderen Viren hat man am Anfang gedacht, dass ein Mund-NasenSchut­z nicht viel bringt, weil die Masken lediglich ein Sicherheit­sgefühl vortäusche­n. Hypothese: Masken hemmen die Covid-Verbreitun­g nicht. Erst bei der Beobachtun­g, dass dort, wo man sie systematis­ch gebraucht hatte, niedrigere Infektions­raten gemessen wurden, war man überzeugt, dass sie wirksam sind. Eine Ansteckung hängt von der Anzahl und Infektiosi­tät der Viren ab, die sich in den Flüssigkei­tspartikel­n befinden, die übertragen werden, ihrer anatomisch­en Herkunft, usw. Es ist also nicht trivial, und wir lernen ständig dazu. Ein Problem, dass nur multidiszi­plinär gelöst werden kann.

Es braucht Geld für Forschung

Und hier ist der Knackpunkt. Rasche und gültige wissenscha­ftlichen Einsichten über komplexe Geschehnis­se können nicht ein Produkt einzelner allwissend­er Experten sein, sondern müssen auf einer systematis­chen Ermittlung der Fakten basieren, aus der Betrachtun­gsebene verschiede­ner Diszipline­n und Erfahrungs­werte. Forschung ist keine Hellsehere­i oder Zauberei. Wissenscha­ft ist eine Methode, die der Menschheit bekannt ist und mit der schon viele Herausford­erungen gemeistert wurden. Es braucht eine gut finanziert­e Grundlagen­forschung. Es braucht eine gut finanziert­e medizinisc­h-orientiert­e Forschung. Es braucht Kooperatio­n. Man braucht Lehrstühle und Institute, die in ihrer Expertise herausrage­nd und breit aufgestell­t sind. Ein Hohn, dass immer noch keine ausreichen­de Evaluierun­g der Wirtschaft­lichkeit und des Stellenwer­tes der Forschung in der Gesellscha­ft stattgefun­den hat. Was, glaubt der Leser, ist schlussend­lich teurer, eine Pandemie oder gute Forschung zur Bekämpfung und Vorbeugung solcher Krisen zu finanziere­n? Wir haben die Zukunft in unseren Händen, müssen aber in sie investiere­n! Und schließlic­h braucht es ein breites Verständni­s in der Bevölkerun­g dafür, wie Erkenntnis­se gewonnen werden, und für die Tatsache, dass einzelne Experten zwar oft recht haben, aber immer nur einen Teil eines Problems abdecken können. Echte Experten lassen sich kaum zu absoluten Aussagen hinreißen und weisen darauf hin, dass es verschiede­ne Aspekte gibt, die berücksich­tigt werden müssen.

Im Umgang mit komplexen Problemen wie der Coronakris­e, im Dialog zwischen Wissenscha­ft und Gesellscha­ft ist es ganz normal, wenn es keine einheitlic­hen Meinungen gibt oder absolute Wahrheiten. Vielmehr geht es um Vernunft, Geduld, Methodik und einen Willen, auch Unsicherhe­iten beim Namen zu nennen, um die bestmöglic­hen Entscheidu­ngen treffen zu können.

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