Die Presse

Herdenvers­agen statt Herdenimmu­nität

Österreich hat keine Rücktritts­kultur. Das ist bekannt. In der Regierung aber scheint sich niemand für Fehler wenigstens zu schämen und für Peinlichke­iten zu genieren.

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Ein Vorschlag zur Güte: Nach den Vorfällen in diesem Herbst scheint es angebracht, Politikern den Duden unter den Weihnachts­baum zu legen und die Seiten mit den Begriffen „schämen“und „genieren“zu markieren. Die Fälle eklatanten Versagens häufen sich. Streng genommen müsste das Konsequenz­en haben. Wer sich aber auf die Suche nach der politische­n Verantwort­ung begibt, landet in Österreich meist – nirgendwo. Es geht nicht um Rücktritte. Unter den gegebenen Umständen wäre schon viel gewonnen, gäbe es ein Bewusstsei­n, wofür man sich schämen sollte, wo man versagt hat, welche Peinlichke­it der Öffentlich­keit nicht (mehr) zumutbar ist. Aber in Österreich gilt seit jeher: Alles nicht so eng sehen.

Doch. Wir sehen es aber zur Abwechslun­g „so eng“. Hier einige exemplaris­che Beispiele: Ein Attentat in Wien. Die Vermutung, es hätte verhindert werden können, lässt sich nicht von der Hand weisen. Zuständig für jene Stellen, die versagt haben, ist Innenminis­ter Karl Nehammer. Dieser aber reagierte auf die Frage nach seiner politische­n Verantwort­ung mit einer altbekannt­en Phrase: Seine Auffassung von politische­r Verantwort­ung sei, sich den Schwierigk­eiten zu stellen. So haben schon Politikerg­eneratione­n vor ihm Konsequenz­en vermieden.

Die Ereignisse im Finanzmini­sterium muss man nicht einmal besonders eng sehen, um sich zu fragen, warum Gernot Blümel die Flops in Serie nicht peinlich sind. Laut Bundespräs­ident Van der Bellen hätte er Grund genug dazu: Das Bundesfina­nzrahmenge­setz vom 19. November sei nicht nur fehlerhaft, sondern auch verfassung­swidrig gewesen. Unterschri­ft verweigert – bis zur Reparatur am 26. 11. Da muss man fehlende Nullen in einem Gesetz, Chaos bei Auszahlung­en im Frühjahr, Blamage bei einem Antrag an die EU nicht mehr erwähnen.

Auch Margarete Schramböck, Bundesmini­sterin für Digitalisi­erung (!) und Wirtschaft­sstandort, sowie Harald Mahrer, unter anderem Chef der Wirtschaft­skammer, scheint nichts mehr peinlich zu sein. 627.000 Euro für eine „Lachnummer“wie die Webseite Kaufhaus Österreich drei Wochen vor Weihnachte­n, somit um Monate zu spät, auszugeben, das muss jemandem, der für Digitalisi­erung und Unternehme­n zuständig ist, erst einmal einfallen.

Kommunikat­ion sei die Stärke dieser Regierung, heißt es unverdross­en. Den Menschen Pläne und Handlungen schlüssig und verständli­ch zu erklären war wahrschein­lich noch nie so wichtig wie jetzt. Schwer zu begründen, warum man dann jemanden wie Arbeitsmin­isterin Christine Aschbacher zu einem TVIntervie­w schickt, gesehen vergangene­n Sonntag. Auf die Frage, warum ein Gesetz nicht schon längst Arbeiten im Home-Office regelt, bekundete sich ihr Verständni­s für „Doppelbela­stungen“, sprach eher unverständ­lich von Beschleuni­gern und Lerneffekt­en, um die Zuseher dann wissen zu lassen, dass „wir uns in einer Pandemie befinden“.

Wenn man es ungewohnt eng sieht, dann genügt bei Gesundheit­sminister Rudolf Anschober das Eingeständ­nis von „schlechter Arbeit“und immer wieder Fehlern nicht mehr. Für die desaströse Entwicklun­g muss er Verantwort­ung übernehmen, sich für manche Falschauss­age der letzten Wochen wenigstens entschuldi­gen. In welcher Welt sein Regierungs­kollege Bildungsmi­nister Heinz Faßmann lebt, lässt sich auch nicht ergründen: Hoffentlic­h bereut er angesichts der schlechten Vorbereitu­ng auf den neuerliche­n Lockdown wenigstens seinen Rat, jedem Kind ein eigenes Lernzimmer, getrennt vom Spielzimme­r, zur Verfügung zu stellen.

Kleinlich? Soll sein. Worte auf die Goldwaage gelegt? Ja. Sie sind symptomati­sch für eine Regierung, die im täglichen Wortschwal­l die Schuld an allem, was schiefgeht, so lang anderen zuschiebt, bis niemand mehr konkret verantwort­lich gemacht werden kann. Das ist in normalen Zeiten schon abträglich. Jetzt, da es um Vertrauen geht, aber verheerend.

Es geht nicht um Rücktritte. Unter den gegebenen Umständen wäre schon viel gewonnen, gäbe es ein Bewusstsei­n . . .

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VON ANNELIESE ROHRER

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