Die Presse

Verhandlun­gen um Brexit auf den letzten Metern

Britischer EU-Austritt. EU-Verhandler Barnier und sein Team wollen am Wochenende in London doch noch die ersehnte Einigung erzielen. Misslingt sie, ist zu Jahreswech­sel Chaos zu befürchten.

- VON OLIVER GRIMM UND WOLFGANG BÖHM

EU-Austritt. Die Brexit-Verhandlun­gen mit Großbritan­nien stehen nach Informatio­nen aus der Europäisch­en Union vor dem entscheide­nden Durchbruch. Noch am Wochenende soll eine Einigung erzielt werden. Bis zum 31. Dezember gilt eine Übergangsp­hase, in der das Königreich EU-Regeln unterliegt.

Brüssel/Wien. Den letzten EurostarZu­g von London nach Brüssel am Freitag ließen Michel Barnier und seine Mannschaft von Verhandler­n sausen: ein Zeichen dafür, dass der Chefverhan­dler der EU bis zur letzten Minute versucht, doch noch eine Übereinkun­ft mit seinen britischen Pendants über das künftige Handelsver­hältnis zwischen der Union und dem Vereinigte­n Königreich zu erzielen. „Kein Kommentar“, erklärte der Chefsprech­er der Kommission bei der täglichen Mittagspre­ssekonfere­nz. „Heute wird den ganzen Tag über verhandelt.“Auch die EUBotschaf­ter der Mitgliedst­aaten, die Barnier ursprüngli­ch am Freitagnac­hmittag über das Ergebnis seiner Unterredun­gen in London hätte informiere­n sollen, mussten vorerst warten.

Warten worauf, verhandeln worüber: Die Streitpunk­te sind seit Langem bekannt. Erstens argwöhnt die EU, dass die Briten sich – entgegen ihrer ursprüngli­chen Zusage – doch nicht an den Grundsatz der vergleichb­aren regulatori­schen Spielregel­n halten wollen und in Wirklichke­it planen, den Europäern vor ihren Küsten unfaire Wirtschaft­skonkurren­z zu machen. Zweitens verlangt die Union felsenfest­e Garantien dafür, dass die Briten nicht mittels Staatsbeih­ilfen in unfaire Konkurrenz zu den Europäern treten. Drittens wollen die Europäer weniger Fischereir­echte in britischen Gewässern an die Briten abgeben, als diese fordern.

Dieser dritte Punkt hat die größte symbolisch­e Kraft, vor allem aber in Frankreich ist er innenpolit­isch sehr heikel. Frankreich­s Fischer würden nach dem vollzogene­n Brexit einen Großteil ihrer Fanggründe in der Nordsee verlieren, denn sie liegen in britischen Gewässern. Präsident Emmanuel Macron hat mehrfach mit dem Veto gegen das Handelsabk­ommen mit London gedroht, sollte diese Frage nicht zu seiner Zufriedenh­eit gelöst werden. Frankreich­s Fischer sind gewerkscha­ftlich stark organisier­t und könnten vor der Präsidente­nwahl 2022 für jene Art von öffentlich­em Chaos sorgen, auf das Macron liebend gern verzichten kann. „Die Mitgliedst­aaten werden entscheide­n müssen, ebenso wie die britische Seite“, sagte Charles Michel, Präsident des Europäisch­en Rates, am Freitag. „Sie müssen Ja oder Nein sagen, und wenn eine Seite des Tischs Nein sagt, dann haben wir einen No-Deal.“

Für die Briten wiederum hätte der Verlust des fortgesetz­ten freien Zugangs zum lukrativen EU-Binnenmark­t ökonomisch fatale Folgen. Zudem ist das Land auf Lebensmitt­elimporte aus Europa angewiesen, um sich zu ernähren. Dieser freie Marktzugan­g ist der Preis dafür, in den drei genannten Fragen mit den Europäern auf einen grünen Zweig zu kommen. Misslingt dies, so verlässt das Vereinigte Königreich die Union in der Nacht auf den 1. Jänner ohne Nachfolgea­bkommen. Zölle und Einfuhrbes­chränkunge­n träten in Kraft. Keine erquicklic­he Aussicht, zumal das Königreich laut Finanzmini­ster Rishi Sunak wegen der

Covid-Pandemie ohnehin schon die schwerste Rezession seit 300 Jahren durchlebe.

London erhöhte den Einsatz

Doch die britische Regierung erhöhte noch einmal den Einsatz. Sie kündigte an, das umstritten­e Binnenmark­tgesetz am Montag in seiner ursprüngli­chen Form erneut im Parlament einzubring­en. Das Gesetz macht Warenkontr­ollen zwischen Nordirland und Großbritan­nien unmöglich und würde Kontrollen an der irischnord­irischen Grenze nötig machen. Mit diesem Schritt würde die britische Regierung nicht nur den EU-Austrittsv­ertrag brechen, sondern auch einen wichtigen Teil des Karfreitag­sabkommens von 1998, das den Frieden für Nordirland brachte. Dieser Vertrag sieht nämlich eine offene Grenze zwischen beiden Teilen Irlands vor.

Das Oberhaus hatte die umstritten­e Passage des Binnenmark­tgesetzes im Vormonat gestrichen. Auch in der konservati­ven Regierungs­partei gab es Kritik am provoziert­en Vertragsbr­uch.

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[ AFP ] Einmal gehts noch: Michael Barnier, Chefverhan­dler der EU in Sachen Brexit, ringt bis ins Wochenende hinein in London um ein künftiges Handelsabk­ommen mit den Briten.

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