Die Krise bringt den Schelm zurück
Die Gegenwartsliteratur hat den vormodernen Schelmenroman mit seinem unliebsamen Helden neu entdeckt.
Du Schelm! Was heutzutage fast liebevoll, in jedem Fall aber harmlos gemeint ist, bezeichnete einst eine boshafte und unangenehme Person. Als literarische Figur machte sich der Schelm erstmals im spanischen Pikaroroman des 16. Jahrhunderts einen Namen. Auch im deutschsprachigen Raum fand die Gattung im 17. Jahrhundert einige Nachahmer, prominentestes Beispiel ist Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens „Courasche“aus dem „Simplicianischen Zyklus“.
Der desillusionierte Held
Zwei Jahrhunderte lang war der Pikaroroman allerdings dann von der Bildfläche verschwunden. Es dominierten optimistische Genres wie der Bildungsroman, in dem ein meist naiver und idealistischer Held durch konkrete Erfahrungen wächst und reift. Doch im 20. Jahrhundert hielt der Schelm erneut Einzug in der deutschsprachigen Literatur. Pikareske Elemente finden sich etwa in „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“(Thomas Mann) oder „Die Blechtrommel“(Günter Grass).
„Der Schelmenroman ist eine Krisenerscheinung, das macht ihn auch heute wieder aktuell“, sagt die Germanistin Maren Lickhardt von der Uni Innsbruck, die in ihrem Habilitationsprojekt Ausprägungen der Textgattung in der Gegenwartsliteratur identifiziert. „Ursprünglich handelt es sich um pessimistische Romane, in denen die Welt als eine schlechte charakterisiert wird. Am Anfang steht ein desengan˜o-Erlebnis, eine Enttäuschung, die den Helden desillusioniert.“Er erkennt, dass man in der Welt nur besteht, wenn man ebenso schlecht ist.
Zeitgenössische Autorinnen und Autoren, die Schelmenromane vorgelegt haben, sind etwa Michael Köhlmeier („Die Abenteuer des Joel Spazierer“; 2013), Lilian Faschinger („Magdalena Sünderin“; 1995), Ingo Schulze („Peter Holtz“; 2017) und Christoph Simon („Planet Obrist“; 2005). Nun stelle sich die Frage, so Lickhardt, warum diese archaische Gattung mit ihrer nicht individuell gestalteten Figur ohne progressivem Lebensweg, die unseren Lesegewohnheiten so ganz und gar nicht entspricht, wieder aufgetaucht ist.
Mittelpunkt des Schelmenromans des 17. Jahrhunderts ist der Ich-Erzähler, eine Person niederer Herkunft, die am Rand der Gesellschaft angesiedelt ist und diese kritisch von außen beobachtet. In nicht aufeinander aufbauenden Episoden begleitet man diesen Außenseiter, der sich nicht weiterentwickelt, quasi kein Gedächtnis hat. Er wechselt im Laufe der Erzählung als Diener von einem Herren zum nächsten. Der Schelm wird von allen gleichermaßen schlecht behandelt, setzt sich aber auch zur Wehr. „Weil seine Herren aus verschiedenen Ständen stammen, kommt eine Art Gesellschaftsrevue zustande“, so Lickhardt. „Wir können dem im Rückblick geschilderten Lebensbericht aber keinen Glauben schenken, weil der Schelm gezeigt hat, dass er verlogen und verschlagen ist.“
Durch den literarischen Rückgriff auf die Frühe Neuzeit schieben sich im 20. und 21. Jahrhundert Vormoderne und Nachmoderne ineinander. Indiziert nun der aktualisierte Schelmenroman den Niedergang des aufklärerischen Diskurses einer immer besser werdenden Welt oder kritisiert er etwas daran? „Jedenfalls zeigt er auf, dass sich nicht alle entwickeln und ihre Glücksvorstellungen verwirklichen können“, sagt Lickhardt. Und genau diese Menschen kommen wiederum fast gelegen, sie werden von der Gesellschaft nur zu gern verwertet. „Konzepte wie Zeitarbeit etwa widersprechen aber unseren aufklärerischen Vorstellungen und der Illusion des Aufstiegs.“Dem Episodischen des Schelmenromans gelinge es gut, das Narrativ der Selbstverwirklichung infrage zu stellen.
Die Literaturwissenschaftlerin weist auf einen weiteren bemerkenswerten Aspekt hin: „Grimmelshausen hat sich einst am Buchdruck abgearbeitet. Auch heute befinden wir uns in einer Art Medienrevolution, wenn man an die sozialen Medien und die FakeNews-Debatten denkt. Wir müssen uns ebenso fragen: Wie wahr und gültig können die Aussagen, die dort verhandelt werden, sein?“Der Schelmenroman bringe passend dazu den unglaubwürdigen Erzähler erneut aufs Tableau.
Letztlich bleibt die Frage unbeantwortet, ob nun die Welt oder der Schelm schlechter ist.
Maren Lickhardt, Literaturwissenschaftlerin, Uni Innsbruck