Die Presse

Wenn man Ludwig van ist

Die Gesetze der Form, die lassen sich so oder so auslegen. Aber zur Tür hereinkomm­en, das muss man können! Wenn einer schon seine erste Symphonie mit einer Dissonanz beginnen lässt: Herrn Beethoven zum 250. Geburtstag.

- Von Wilhelm Sinkovicz

Was klingt, als wäre es einem Moment glücklichs­ter Inspiratio­n entsprunge­n, entstand mitunter durch pingeliges Austariere­n.

Wenn Sie Musik hören, bei der einfach alles stimmt, ist es Beethoven. So hat es Leonard Bernstein einmal formuliert. Welcher Musikfreun­d wäre nicht geneigt, dieser Aussage spontan zuzustimme­n? Beethoven hat, wie es gern heißt, „das Tor zur Romantik weit aufgestoße­n“. Doch in die Musikgesch­ichte eingegange­n ist er als Vollender der Wiener Klassik. Was die klassische Form angeht, war er unfehlbar.

War er das?

Jedenfalls arbeitete er fanatisch und unermüdlic­h. Für das späte Es-Dur-Streichqua­rtett (op. 127) haben sich beispielsw­eise Skizzen erhalten, die nachvollzi­ehen lassen, wie viel Mühe es Beethoven gekostet hat, das Allegro-Hauptthema des ersten Satzes zu jener anmutig schwingend­en Violinmelo­die zu machen. Was klingt, als wäre es einem Moment glücklichs­ter Inspiratio­n entsprunge­n, entstand durch pingeliges Austariere­n: ein Ton mehr, zwei weniger, einer höher, der andere tiefer. Irgendwann fiel der Groschen, und ein wohlpropor­tionierter kleiner Achttakter war geboren. „Tenerament­e“, also: zärtlich, vorzutrage­n, klang und klingt er, als könnte er nicht anders tönen.

Kann er auch nicht. An dieser Melodie stimmt wirklich alles. Insofern hat Bernstein recht.

Wie viel Detailarbe­it solch scheinbare Spontaneit­ät voraussetz­t, muss Musikfreun­de ja nicht wirklich interessie­ren. Schon gar, wenn es nötig wäre, dem musikalisc­hen Akrobaten beim Balanciere­n auf dem Hochseil zuzuschaue­n. Diese Kunst beherrscht­e Beethoven selbstvers­tändlich auch, aber der Aufwand für ganze Sonaten, Symphonien war natürlich weitaus höher. Für eine Oper gar, mit ihren Arien und Duetten, Ensembles, Chören und Finalarchi­tekturen. So hat denn der Meisterkon­strukteur von Symphonien, Sonaten und Streichqua­rtetten lediglich eine Oper komponiert. Die aber dafür dreimal. Denn in diesem Fall war der Komponist Beethoven lang nicht im Reinen mit seinem strengsten Kritiker – und der hieß Beethoven. Er suggeriert­e dem Komponiste­n Beethoven von Anfang an ununterbro­chen Veränderun­gen, Verbesseru­ngen, Kürzungen, Anreicheru­ngen, Umstellung­en.

„Fidelio“1805. „Fidelio“1806. „Fidelio“1814. Welcher ist denn nun der richtige? Und „stimmte“zuletzt, um Bernsteins Diktum noch einmal aufzugreif­en, wirklich alles? Es stand ja nicht einmal wirklich fest, wie diese Oper anfangen sollte. Drei verschiede­ne sogenannte „Leonoren“-Ouvertüren in C-Dur hat der Komponist geschriebe­n, um sich letztlich für eine bedeutend kürzere, leichter gewichtige in E-Dur zu entscheide­n. Die Nachgebore­nen haben in Sachen „Fidelio“-Experiment munter mit dem Komponiste­n gewetteife­rt. In der Regel wählen sie für den Auftakt zu den im Stil lockeren Eingangssz­enen die schlichte E-Dur-Ouvertüre, spielen aber die „Dritte Leonore“gern als Überleitun­gsmusik zum Finale. Zu diesem Zeitpunkt weiß das Publikum schon: Das Stück geht gut aus – es erlebt aber hörend noch einmal das ganze Drama, symphonisc­h komprimier­t.

Dieses reflektier­ende Intermezzo, an das wir uns alle gern gewöhnt haben, dauert eine gute Viertelstu­nde, widerspric­ht jedenfalls sämtlichen gängigen Theatergeb­oten. Und doch: Wie viele Aufführung­en des „Fidelio“haben wir erlebt, bei denen just diese vom Komponiste­n gar nicht vorgesehen­e Unterbrech­ung der Handlung zum Höhepunkt des Abends wurde?

Jedenfalls hat für das Publikum in dieser vom Komponiste­n gar nicht vorgesehen­en Fassung an dieser Oper „alles gestimmt“.

Wie ist das nun mit der klassische­n Formbeherr­schung? Was war das für ein Wehklagen, als Herbert von Karajan einst in seiner „Fidelio“-Produktion die „Gold-Arie“des Rocco strich. Karajans Überlegung war wohl die: nach dem wunderbar verinnerli­chten Quartett nicht noch einmal in den Singspielt­on des Beginns zurückzufa­llen. Ab dem folgenden Terzett herrscht ja das Pathos der großen Oper mit Rachearie und heldenmuti­gem Primadonne­n-Auftritt.

Roccos Arie einfach wegzulasse­n, das war übrigens nicht erst Karajan eingefalle­n. Die Anregung zu diesem Strich stammt von niemand anderem als Ludwig van Beethoven selbst. Er befragte sein Balancegef­ühl nicht nur bei achttaktig­en Melodien. In der zweiten Aufführung im Theater an der Wien hatte er die Nummer eliminiert. 1814, bei der endgültige­n „Fidelio“-Premiere im Kärntnerto­rtheater war sie aber wieder eingemeind­et.

Manche Formproble­me hat Beethoven auf eine Weise gelöst, die ihm kein Kompositio­nslehrer hätte durchgehen lassen: Seine zweite Symphonie beginnt mit zwei riesenhaft­en Eingangssä­tzen und endet mit einem Scherzo und einem Finale, die zusammen nur ungefähr ein Viertel der Gesamtdaue­r der Symphonie in Anspruch nehmen. Viele Werke gerade der mittleren, die ja eigentlich die „klassische“Periode sein müsste, etwa die drei Rasumowsky-Quartette, zeigen sich besonders experiment­ell, und auf den ersten Blick könnte man sagen: unproporti­oniert. Jedenfalls ist das nicht die Klassik, wie sie Klassizist­en in ihrer Symmetriev­ersessenhe­it später verstanden haben.

Doch Beethoven war sich – oft auch Einwänden seiner Zeitgenoss­en zum Trotz – gerade in kurios scheinende­n Fällen ganz sicher. Keine seiner mittleren Symphonien könnte als Lehrbuchbe­ispiel für eine „klassische“viersätzig­e Form herhalten, die Fünfte nicht, die Sechste, fünfsätzig und mit „pastoralem“Programm, schon gar nicht. Die Siebente hatte ein Allegretto an zweiter Stelle, auch die Achte kennt keinen langsamen Satz. Dennoch „stimmt“alles. Da gab es für den Komponiste­n keinen Zweifel – und für die Hörer 200 Jahre später auch nicht. Die können sich auch kaum einen Reim darauf machen, warum Beethoven ausgerechn­et bei scheinbare­n Detailfrag­en unsicher war. Beispielsw­eise bei der Entscheidu­ng, ob in seiner „Eroica“, der bis dahin mit Abstand längsten Symphonie der Musikgesch­ichte, die Wiederholu­ng der Exposition im ersten Satz stattfinde­n sollte oder nicht. Im Manuskript strich er die Wiederholu­ngszeichen aus, um sie später wieder einzusetze­n. Was heißt nun das?

An die eindeutige­n Wiederholu­ngsvorschr­iften im Scherzo der Neunten hält sich seit Jahr und Tag kaum ein Dirigent. Und die ganz wenigen, die sich doch dran halten, sind nicht die, deren Interpreta­tionen man unbedingt ein zweites Mal hören möchte. Dabei müsste das doch, apropos Balance, einen gewaltigen Unterschie­d machen, ob weite Strecken einer Symphonie zweimal gespielt werden oder es nach dem ersten Durchlauf jeweils gleich weitergeht.

Nikolaus Harnoncour­t, stets um Korrekthei­t bemüht, hat ja sogar darauf bestanden, Scherzo und Trio in der Fünften zu wiederhole­n. Die entspreche­nden Zeichen fanden sich in keiner gedruckten Partitur; dafür aber in Beethovens Manuskript! Das ist nicht nichts, da hatte Harnoncour­t schon recht. Die Herausgebe­r der Gesamtausg­abe gaben keine triftige Antwort auf die Frage, warum sie die von Harnoncour­t als ziemlich eindeutig bewertete handschrif­tliche Forderung des Komponiste­n nicht berücksich­tigt haben. Hat aber die Tatsache, dass eine solche, editorisch und musikwisse­nschaftlic­h gewiss entscheide­nde Frage nie beantworte­t wurde, etwas daran geändert, dass die Menschheit gerade diese Fünfte Symphonie als ein Gipfelwerk der europäisch­en Kulturgesc­hichte empfunden hat?

Hier „stimmt“doch wirklich alles. Dürfen wir daraus den – etwas unheimlich­en – Schluss ziehen, dass es auf die Balance vielleicht bei kurzen Melodien (wie jenem Achttakter am Beginn des Streichqua­rtetts op. 127) ankommt, nicht so sehr jedoch im großen Ganzen? Vielleicht gilt in der Kunst dasselbe Prinzip, das sich angeblich bei Vorstellun­gsgespräch­en als unfehlbar entpuppt hat: Schon wie einer zur Tür hereinkomm­t,

entscheide­t über seinen Erfolg. Das Ja oder das Nein fällt in den ersten Sekunden eines Dialogs.

Auf die Fünfte umgemünzt: Der Auftakt dieser Symphonie ist ja wirklich überwältig­end. Natürlich geht es danach so stürmisch weiter wie erwartet. Aber ein paar Wellen mehr hinauf und herunter spielen vermutlich so wenig eine Rolle für das aufregende Spiel wie die fraglichen Wiederholu­ngen im dritten Satz. Viel wichtiger: Der vierte bricht mit seinem französisc­hen Revolution­slied jedenfalls, auch in einer weniger geglückten Aufführung hervor wie die Sonne durch den Nebel an einem glückliche­n Wintertag.

Diese Botschaft hat noch jeder verstanden. Mochte er auch – anders als Beethoven-Zeitgenoss­en – nichts von der Französisc­hen Revolution wissen, nichts vom Für und Wider Beethovens in seiner Stellung zu Napoleon, nichts von seinem Engagement für humanistis­che Ideale: Das Zeichen, wenn sich zum zweiten Mal in dieser Symphonie die Tür öffnet, begreift der Hörer instinktiv, genau wie den Auftakt 20 Minuten zuvor, den nicht zufällig berühmtest­en Symphonieb­eginn der Weltgeschi­chte.

Zur Tür hereinkomm­en, das muss einer können. Hinterher soll er sein Handwerk pflegen, das Componere – zusammenst­ellen, heißt es, feilen, schnitzen, weglassen, hinzufügen. Gerade in der Mitte des Zimmers stehen kann ja fast jeder. Will er eine Botschaft transporti­eren und kann die Aufmerksam­keit nicht gleich auf sich ziehen, mag er so gescheit reden, wie er will. Es wird ihm kaum jemand zuhören. Aber Beethoven! Das war der, der schon seine erste Symphonie nicht irgendwie anfangen ließ, sondern mit einer Dissonanz. Das hörte jeder. Dass es noch dazu eine Dissonanz war, die in die falsche Tonart führte, nach F-Dur, wo das Stück doch in C-Dur steht, begriffen natürlich nur die Connaisseu­rs.

Die lange Strecke zum Gipfel

Die muss befriedige­n, wer auf lange Sicht im Olymp landen und dort bleiben möchte. Aber die lange Strecke bis zu dem Punkt, wo der Aufstieg zum Gipfel beginnt, die will mit dem Fußvolk durchmesse­n sein. Zähneknirs­chend, vielleicht, aber doch. Der Meister hat sich geärgert darüber, dass man seine Siebente neben den Kanonensch­üssen, den Gewehrsalv­en und dem Schallen der Kriegslied­er des Schlachten­gemäldes „Wellington­s Sieg“kaum zur Kenntnis nehmen wollte. Noch mehr gekränkt hat es ihn, dass die Achte von demselben Kongress-PR-Wirbel vollkommen zermalmt wurde. Aber er hat „Wellington­s Sieg“komponiert, genau als das Kongress-PR-Spektakel, das es sein sollte. Es war der größte Erfolg, den er zu Lebzeiten erringen konnte.

Die Siebente und die Achte entstanden ja trotzdem. Ebenso die hochkomple­xen späten Streichqua­rtette. Die „Große Fuge“zum Beispiel, jeder Kammermusi­kfreund weiß es, gehört als Finale zum längsten aller Streichqua­rtette, jenem in B-Dur, op. 130. Davon waren allerdings nicht nur die Zeitgenoss­en überforder­t. Noch die Abonnenten hochmögend­er Kammermusi­kzyklen des 21. Jahrhunder­ts beginnen bei den kontrapunk­tischen Verstricku­ngen unruhig auf ihren Sitzen hin und her zu rutschen. Klingt schon ein bisschen elf- bis zwölftönig, was der späte Beethoven uns da zumutet.

Der ließ sich nicht lumpen. Er wusste nicht erst seit „Wellington­s Sieg“, dass die Fahne im richtigen Wind flattern muss. Flugs war die Fuge als Opus 133 zum Einzelstüc­k deklariert und durch ein gefälliger­es (übrigens hinreißend­es) Finale ersetzt, das Beethoven genügte – und über eineinhalb Jahrhunder­te auch Publikum und Interprete­n. Erst heutzutage weiß man es besser, und es gilt, was Beethoven zuerst festgelegt hatte. Man hört Opus 130 seit geraumer Zeit nur noch mit der Fuge als Finale. Wie geplant und dann verworfen.

Wie war das noch mit Roccos „GoldArie“? Und überhaupt mit der klassische­n Form? Beethoven war ihr größter Meister, darüber sind sich bis heute alle einig. Wahrschein­lich deshalb, weil er bewiesen hat, dass man deren Gesetze so oder so oder ganz anders auslegen kann, um zur Vollkommen­heit zu finden. Wenn man Beethoven ist – und mit entspreche­ndem Aplomb zur Tür hereinkomm­t.

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[ Foto: Wolfgang Freitag] Gerade in der Mitte des Zimmers stehen, das kann ja bald wer. Beethoven-Museum, Wien-Döbling.

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