Wenn man Ludwig van ist
Die Gesetze der Form, die lassen sich so oder so auslegen. Aber zur Tür hereinkommen, das muss man können! Wenn einer schon seine erste Symphonie mit einer Dissonanz beginnen lässt: Herrn Beethoven zum 250. Geburtstag.
Was klingt, als wäre es einem Moment glücklichster Inspiration entsprungen, entstand mitunter durch pingeliges Austarieren.
Wenn Sie Musik hören, bei der einfach alles stimmt, ist es Beethoven. So hat es Leonard Bernstein einmal formuliert. Welcher Musikfreund wäre nicht geneigt, dieser Aussage spontan zuzustimmen? Beethoven hat, wie es gern heißt, „das Tor zur Romantik weit aufgestoßen“. Doch in die Musikgeschichte eingegangen ist er als Vollender der Wiener Klassik. Was die klassische Form angeht, war er unfehlbar.
War er das?
Jedenfalls arbeitete er fanatisch und unermüdlich. Für das späte Es-Dur-Streichquartett (op. 127) haben sich beispielsweise Skizzen erhalten, die nachvollziehen lassen, wie viel Mühe es Beethoven gekostet hat, das Allegro-Hauptthema des ersten Satzes zu jener anmutig schwingenden Violinmelodie zu machen. Was klingt, als wäre es einem Moment glücklichster Inspiration entsprungen, entstand durch pingeliges Austarieren: ein Ton mehr, zwei weniger, einer höher, der andere tiefer. Irgendwann fiel der Groschen, und ein wohlproportionierter kleiner Achttakter war geboren. „Teneramente“, also: zärtlich, vorzutragen, klang und klingt er, als könnte er nicht anders tönen.
Kann er auch nicht. An dieser Melodie stimmt wirklich alles. Insofern hat Bernstein recht.
Wie viel Detailarbeit solch scheinbare Spontaneität voraussetzt, muss Musikfreunde ja nicht wirklich interessieren. Schon gar, wenn es nötig wäre, dem musikalischen Akrobaten beim Balancieren auf dem Hochseil zuzuschauen. Diese Kunst beherrschte Beethoven selbstverständlich auch, aber der Aufwand für ganze Sonaten, Symphonien war natürlich weitaus höher. Für eine Oper gar, mit ihren Arien und Duetten, Ensembles, Chören und Finalarchitekturen. So hat denn der Meisterkonstrukteur von Symphonien, Sonaten und Streichquartetten lediglich eine Oper komponiert. Die aber dafür dreimal. Denn in diesem Fall war der Komponist Beethoven lang nicht im Reinen mit seinem strengsten Kritiker – und der hieß Beethoven. Er suggerierte dem Komponisten Beethoven von Anfang an ununterbrochen Veränderungen, Verbesserungen, Kürzungen, Anreicherungen, Umstellungen.
„Fidelio“1805. „Fidelio“1806. „Fidelio“1814. Welcher ist denn nun der richtige? Und „stimmte“zuletzt, um Bernsteins Diktum noch einmal aufzugreifen, wirklich alles? Es stand ja nicht einmal wirklich fest, wie diese Oper anfangen sollte. Drei verschiedene sogenannte „Leonoren“-Ouvertüren in C-Dur hat der Komponist geschrieben, um sich letztlich für eine bedeutend kürzere, leichter gewichtige in E-Dur zu entscheiden. Die Nachgeborenen haben in Sachen „Fidelio“-Experiment munter mit dem Komponisten gewetteifert. In der Regel wählen sie für den Auftakt zu den im Stil lockeren Eingangsszenen die schlichte E-Dur-Ouvertüre, spielen aber die „Dritte Leonore“gern als Überleitungsmusik zum Finale. Zu diesem Zeitpunkt weiß das Publikum schon: Das Stück geht gut aus – es erlebt aber hörend noch einmal das ganze Drama, symphonisch komprimiert.
Dieses reflektierende Intermezzo, an das wir uns alle gern gewöhnt haben, dauert eine gute Viertelstunde, widerspricht jedenfalls sämtlichen gängigen Theatergeboten. Und doch: Wie viele Aufführungen des „Fidelio“haben wir erlebt, bei denen just diese vom Komponisten gar nicht vorgesehene Unterbrechung der Handlung zum Höhepunkt des Abends wurde?
Jedenfalls hat für das Publikum in dieser vom Komponisten gar nicht vorgesehenen Fassung an dieser Oper „alles gestimmt“.
Wie ist das nun mit der klassischen Formbeherrschung? Was war das für ein Wehklagen, als Herbert von Karajan einst in seiner „Fidelio“-Produktion die „Gold-Arie“des Rocco strich. Karajans Überlegung war wohl die: nach dem wunderbar verinnerlichten Quartett nicht noch einmal in den Singspielton des Beginns zurückzufallen. Ab dem folgenden Terzett herrscht ja das Pathos der großen Oper mit Rachearie und heldenmutigem Primadonnen-Auftritt.
Roccos Arie einfach wegzulassen, das war übrigens nicht erst Karajan eingefallen. Die Anregung zu diesem Strich stammt von niemand anderem als Ludwig van Beethoven selbst. Er befragte sein Balancegefühl nicht nur bei achttaktigen Melodien. In der zweiten Aufführung im Theater an der Wien hatte er die Nummer eliminiert. 1814, bei der endgültigen „Fidelio“-Premiere im Kärntnertortheater war sie aber wieder eingemeindet.
Manche Formprobleme hat Beethoven auf eine Weise gelöst, die ihm kein Kompositionslehrer hätte durchgehen lassen: Seine zweite Symphonie beginnt mit zwei riesenhaften Eingangssätzen und endet mit einem Scherzo und einem Finale, die zusammen nur ungefähr ein Viertel der Gesamtdauer der Symphonie in Anspruch nehmen. Viele Werke gerade der mittleren, die ja eigentlich die „klassische“Periode sein müsste, etwa die drei Rasumowsky-Quartette, zeigen sich besonders experimentell, und auf den ersten Blick könnte man sagen: unproportioniert. Jedenfalls ist das nicht die Klassik, wie sie Klassizisten in ihrer Symmetrieversessenheit später verstanden haben.
Doch Beethoven war sich – oft auch Einwänden seiner Zeitgenossen zum Trotz – gerade in kurios scheinenden Fällen ganz sicher. Keine seiner mittleren Symphonien könnte als Lehrbuchbeispiel für eine „klassische“viersätzige Form herhalten, die Fünfte nicht, die Sechste, fünfsätzig und mit „pastoralem“Programm, schon gar nicht. Die Siebente hatte ein Allegretto an zweiter Stelle, auch die Achte kennt keinen langsamen Satz. Dennoch „stimmt“alles. Da gab es für den Komponisten keinen Zweifel – und für die Hörer 200 Jahre später auch nicht. Die können sich auch kaum einen Reim darauf machen, warum Beethoven ausgerechnet bei scheinbaren Detailfragen unsicher war. Beispielsweise bei der Entscheidung, ob in seiner „Eroica“, der bis dahin mit Abstand längsten Symphonie der Musikgeschichte, die Wiederholung der Exposition im ersten Satz stattfinden sollte oder nicht. Im Manuskript strich er die Wiederholungszeichen aus, um sie später wieder einzusetzen. Was heißt nun das?
An die eindeutigen Wiederholungsvorschriften im Scherzo der Neunten hält sich seit Jahr und Tag kaum ein Dirigent. Und die ganz wenigen, die sich doch dran halten, sind nicht die, deren Interpretationen man unbedingt ein zweites Mal hören möchte. Dabei müsste das doch, apropos Balance, einen gewaltigen Unterschied machen, ob weite Strecken einer Symphonie zweimal gespielt werden oder es nach dem ersten Durchlauf jeweils gleich weitergeht.
Nikolaus Harnoncourt, stets um Korrektheit bemüht, hat ja sogar darauf bestanden, Scherzo und Trio in der Fünften zu wiederholen. Die entsprechenden Zeichen fanden sich in keiner gedruckten Partitur; dafür aber in Beethovens Manuskript! Das ist nicht nichts, da hatte Harnoncourt schon recht. Die Herausgeber der Gesamtausgabe gaben keine triftige Antwort auf die Frage, warum sie die von Harnoncourt als ziemlich eindeutig bewertete handschriftliche Forderung des Komponisten nicht berücksichtigt haben. Hat aber die Tatsache, dass eine solche, editorisch und musikwissenschaftlich gewiss entscheidende Frage nie beantwortet wurde, etwas daran geändert, dass die Menschheit gerade diese Fünfte Symphonie als ein Gipfelwerk der europäischen Kulturgeschichte empfunden hat?
Hier „stimmt“doch wirklich alles. Dürfen wir daraus den – etwas unheimlichen – Schluss ziehen, dass es auf die Balance vielleicht bei kurzen Melodien (wie jenem Achttakter am Beginn des Streichquartetts op. 127) ankommt, nicht so sehr jedoch im großen Ganzen? Vielleicht gilt in der Kunst dasselbe Prinzip, das sich angeblich bei Vorstellungsgesprächen als unfehlbar entpuppt hat: Schon wie einer zur Tür hereinkommt,
entscheidet über seinen Erfolg. Das Ja oder das Nein fällt in den ersten Sekunden eines Dialogs.
Auf die Fünfte umgemünzt: Der Auftakt dieser Symphonie ist ja wirklich überwältigend. Natürlich geht es danach so stürmisch weiter wie erwartet. Aber ein paar Wellen mehr hinauf und herunter spielen vermutlich so wenig eine Rolle für das aufregende Spiel wie die fraglichen Wiederholungen im dritten Satz. Viel wichtiger: Der vierte bricht mit seinem französischen Revolutionslied jedenfalls, auch in einer weniger geglückten Aufführung hervor wie die Sonne durch den Nebel an einem glücklichen Wintertag.
Diese Botschaft hat noch jeder verstanden. Mochte er auch – anders als Beethoven-Zeitgenossen – nichts von der Französischen Revolution wissen, nichts vom Für und Wider Beethovens in seiner Stellung zu Napoleon, nichts von seinem Engagement für humanistische Ideale: Das Zeichen, wenn sich zum zweiten Mal in dieser Symphonie die Tür öffnet, begreift der Hörer instinktiv, genau wie den Auftakt 20 Minuten zuvor, den nicht zufällig berühmtesten Symphoniebeginn der Weltgeschichte.
Zur Tür hereinkommen, das muss einer können. Hinterher soll er sein Handwerk pflegen, das Componere – zusammenstellen, heißt es, feilen, schnitzen, weglassen, hinzufügen. Gerade in der Mitte des Zimmers stehen kann ja fast jeder. Will er eine Botschaft transportieren und kann die Aufmerksamkeit nicht gleich auf sich ziehen, mag er so gescheit reden, wie er will. Es wird ihm kaum jemand zuhören. Aber Beethoven! Das war der, der schon seine erste Symphonie nicht irgendwie anfangen ließ, sondern mit einer Dissonanz. Das hörte jeder. Dass es noch dazu eine Dissonanz war, die in die falsche Tonart führte, nach F-Dur, wo das Stück doch in C-Dur steht, begriffen natürlich nur die Connaisseurs.
Die lange Strecke zum Gipfel
Die muss befriedigen, wer auf lange Sicht im Olymp landen und dort bleiben möchte. Aber die lange Strecke bis zu dem Punkt, wo der Aufstieg zum Gipfel beginnt, die will mit dem Fußvolk durchmessen sein. Zähneknirschend, vielleicht, aber doch. Der Meister hat sich geärgert darüber, dass man seine Siebente neben den Kanonenschüssen, den Gewehrsalven und dem Schallen der Kriegslieder des Schlachtengemäldes „Wellingtons Sieg“kaum zur Kenntnis nehmen wollte. Noch mehr gekränkt hat es ihn, dass die Achte von demselben Kongress-PR-Wirbel vollkommen zermalmt wurde. Aber er hat „Wellingtons Sieg“komponiert, genau als das Kongress-PR-Spektakel, das es sein sollte. Es war der größte Erfolg, den er zu Lebzeiten erringen konnte.
Die Siebente und die Achte entstanden ja trotzdem. Ebenso die hochkomplexen späten Streichquartette. Die „Große Fuge“zum Beispiel, jeder Kammermusikfreund weiß es, gehört als Finale zum längsten aller Streichquartette, jenem in B-Dur, op. 130. Davon waren allerdings nicht nur die Zeitgenossen überfordert. Noch die Abonnenten hochmögender Kammermusikzyklen des 21. Jahrhunderts beginnen bei den kontrapunktischen Verstrickungen unruhig auf ihren Sitzen hin und her zu rutschen. Klingt schon ein bisschen elf- bis zwölftönig, was der späte Beethoven uns da zumutet.
Der ließ sich nicht lumpen. Er wusste nicht erst seit „Wellingtons Sieg“, dass die Fahne im richtigen Wind flattern muss. Flugs war die Fuge als Opus 133 zum Einzelstück deklariert und durch ein gefälligeres (übrigens hinreißendes) Finale ersetzt, das Beethoven genügte – und über eineinhalb Jahrhunderte auch Publikum und Interpreten. Erst heutzutage weiß man es besser, und es gilt, was Beethoven zuerst festgelegt hatte. Man hört Opus 130 seit geraumer Zeit nur noch mit der Fuge als Finale. Wie geplant und dann verworfen.
Wie war das noch mit Roccos „GoldArie“? Und überhaupt mit der klassischen Form? Beethoven war ihr größter Meister, darüber sind sich bis heute alle einig. Wahrscheinlich deshalb, weil er bewiesen hat, dass man deren Gesetze so oder so oder ganz anders auslegen kann, um zur Vollkommenheit zu finden. Wenn man Beethoven ist – und mit entsprechendem Aplomb zur Tür hereinkommt.