Das Seltsamste aus allen Welten
Expedition Europa: unkontrollierte Grenzüberschreitungen mit der Baseler Tram.
Anfang dieser Woche übernachtete ich in einer Kapsel. Ich suchte nicht das Abenteuer, es war einfach das billigste Einzelzimmer in Basel. Ich kam aus Österreich, wo sich momentan das Schlechteste aus allen Welten verbindet (harter Lockdown, immer noch hohe Fallzahlen, über hundert Tote täglich) und hoffte in der Schweiz (sanfter Slowdown, immer noch hohe Fallzahlen, über hundert Tote täglich) ein wenig Freiheit zu schnuppern. Ich überschritt zehnmal die Grenzen von Staaten mit teils weitreichenden Einreisesperren, kontrolliert wurde ich nur ein einziges Mal.
Um in meine Kapsel zu kommen, musste ich an fünf Stellen wechselnde Codes eintippen. Beim vierten Touchscreen versagte das System. Zum Glück war der Besitzer gerade im Haupthaus. Bei „98 Prozent“der Gäste funktioniert die „digitale Hotellerie“, versicherte der Deutsche und sperrte die Kapsel auf. In einem fensterlosen Kellerraum befanden sich vier fensterlose Kapseln, jeweils zwei übereinander. Ich kroch rein. Eine Fototapete samt Spiegel evozierten die Illusion, man würde von einem Sonnenstrahl gestreichelt unter einer Baumkrone schweben. In Wirklichkeit hatte die Kapsel keine drei Kubikmeter. Für ein Zimmer war das klein, für einen Sarg war das groß.
Basel-Stadt hatte gerade einen MiniLockdown ohne Ausgangssperre, der Kanton Basel-Landschaft mit seinen nahtlos angrenzenden Vorstädten nicht. Eine Baselerin erzählte mir, dass die Joggingrunde von ihrer Kleinbaseler Wohnung durch Deutschland und Frankreich führt. Drei Länder in einer Dreiviertelstunde, echt so nah? Ich fuhr den ganzen Abend mit der Tram herum. Plötzlich stand ich in Saint-Louis, plötzlich flanierte ich unter art-deco-´artigen Straßenlaternen mit warmgelbem Licht.
Geschlossener „Brutzelwagen“
Zurück in der Schweiz, spazierte ich durchs Grenzviertel Santihans. Hallen und Türme von Novartis, vor allem aber die Hallen des 1869 hier gegründeten Fleischkonzerns Bell. Beim geschlossenen „Brutzelwagen“die landestypischen Verbotsschilder auf Deutsch und Französisch: „Die Einkaufskörbe sind abgezählt“, „Das Restaurant ist für externe Besucher geschlossen“, „Dieser Raucherplatz ist ab sofort nur für externe Gäste“. Im Halbdunkel der langen Kantine oben saßen noch ein paar Arbeiter, alle von sichtbar außereuropäischer Herkunft. Industrie, Entfremdung, gewaltige Abstände, das war wie von Edward Hopper gemalt. Dann nahm ich die Tram nach Deutschland.
Fünfzehn Gehminuten von der Kapsel begann Basel-Landschaft. Ich setzte mich in eine Binninger Jukebox-Musikbar, gut mit alten weißen Männern gefüllt, das wäre so spät am Abend nicht einmal mehr in Schweden erlaubt. Das ersehnte Befreiungsgefühl blieb jedoch aus: Da man sich im neunten Monat der Pandemie nicht noch schnell anstecken will, saß ich allein in der Lokalmitte, wie ein Mondlander in weißem Sweater und weißer Maske vor der weißen ContactTracing-Liste und nippte in müder Selbstversunkenheit an einer Vieille Prune. Die Barfrau mit der schattig-humanistischen Augenpartie streifte einmal meine Schulter. Diese Nähe war schockierend. Wie deformiert muss man sein, wenn man das der Erwähnung wert befindet?
Ich ging in die Kapsel schlafen. Der schauerlichste Moment war, als ich die Schiebetür von innen zuzog. Leise summte die Lüftung. Ich überlegte, wie lange der Sauerstoff im Fall eines weiteren Systemversagens ausreicht und ob das hier nicht irgendwo eine Metapher für unser eingekapseltes Leben ist. Die Luft blieb aber frisch. Ich gelangte am Morgen ins Freie.