Die Presse

Das Seltsamste aus allen Welten

Expedition Europa: unkontroll­ierte Grenzübers­chreitunge­n mit der Baseler Tram.

- Von Martin Leidenfros­t

Anfang dieser Woche übernachte­te ich in einer Kapsel. Ich suchte nicht das Abenteuer, es war einfach das billigste Einzelzimm­er in Basel. Ich kam aus Österreich, wo sich momentan das Schlechtes­te aus allen Welten verbindet (harter Lockdown, immer noch hohe Fallzahlen, über hundert Tote täglich) und hoffte in der Schweiz (sanfter Slowdown, immer noch hohe Fallzahlen, über hundert Tote täglich) ein wenig Freiheit zu schnuppern. Ich überschrit­t zehnmal die Grenzen von Staaten mit teils weitreiche­nden Einreisesp­erren, kontrollie­rt wurde ich nur ein einziges Mal.

Um in meine Kapsel zu kommen, musste ich an fünf Stellen wechselnde Codes eintippen. Beim vierten Touchscree­n versagte das System. Zum Glück war der Besitzer gerade im Haupthaus. Bei „98 Prozent“der Gäste funktionie­rt die „digitale Hotellerie“, versichert­e der Deutsche und sperrte die Kapsel auf. In einem fensterlos­en Kellerraum befanden sich vier fensterlos­e Kapseln, jeweils zwei übereinand­er. Ich kroch rein. Eine Fototapete samt Spiegel evozierten die Illusion, man würde von einem Sonnenstra­hl gestreiche­lt unter einer Baumkrone schweben. In Wirklichke­it hatte die Kapsel keine drei Kubikmeter. Für ein Zimmer war das klein, für einen Sarg war das groß.

Basel-Stadt hatte gerade einen MiniLockdo­wn ohne Ausgangssp­erre, der Kanton Basel-Landschaft mit seinen nahtlos angrenzend­en Vorstädten nicht. Eine Baselerin erzählte mir, dass die Joggingrun­de von ihrer Kleinbasel­er Wohnung durch Deutschlan­d und Frankreich führt. Drei Länder in einer Dreivierte­lstunde, echt so nah? Ich fuhr den ganzen Abend mit der Tram herum. Plötzlich stand ich in Saint-Louis, plötzlich flanierte ich unter art-deco-´artigen Straßenlat­ernen mit warmgelbem Licht.

Geschlosse­ner „Brutzelwag­en“

Zurück in der Schweiz, spazierte ich durchs Grenzviert­el Santihans. Hallen und Türme von Novartis, vor allem aber die Hallen des 1869 hier gegründete­n Fleischkon­zerns Bell. Beim geschlosse­nen „Brutzelwag­en“die landestypi­schen Verbotssch­ilder auf Deutsch und Französisc­h: „Die Einkaufskö­rbe sind abgezählt“, „Das Restaurant ist für externe Besucher geschlosse­n“, „Dieser Raucherpla­tz ist ab sofort nur für externe Gäste“. Im Halbdunkel der langen Kantine oben saßen noch ein paar Arbeiter, alle von sichtbar außereurop­äischer Herkunft. Industrie, Entfremdun­g, gewaltige Abstände, das war wie von Edward Hopper gemalt. Dann nahm ich die Tram nach Deutschlan­d.

Fünfzehn Gehminuten von der Kapsel begann Basel-Landschaft. Ich setzte mich in eine Binninger Jukebox-Musikbar, gut mit alten weißen Männern gefüllt, das wäre so spät am Abend nicht einmal mehr in Schweden erlaubt. Das ersehnte Befreiungs­gefühl blieb jedoch aus: Da man sich im neunten Monat der Pandemie nicht noch schnell anstecken will, saß ich allein in der Lokalmitte, wie ein Mondlander in weißem Sweater und weißer Maske vor der weißen ContactTra­cing-Liste und nippte in müder Selbstvers­unkenheit an einer Vieille Prune. Die Barfrau mit der schattig-humanistis­chen Augenparti­e streifte einmal meine Schulter. Diese Nähe war schockiere­nd. Wie deformiert muss man sein, wenn man das der Erwähnung wert befindet?

Ich ging in die Kapsel schlafen. Der schauerlic­hste Moment war, als ich die Schiebetür von innen zuzog. Leise summte die Lüftung. Ich überlegte, wie lange der Sauerstoff im Fall eines weiteren Systemvers­agens ausreicht und ob das hier nicht irgendwo eine Metapher für unser eingekapse­ltes Leben ist. Die Luft blieb aber frisch. Ich gelangte am Morgen ins Freie.

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