Die Presse

„An den Brüsten der Natur“

Beethovens Neunte, welch eine Explosion! Aber schauen wir uns doch, die wunderbare Musik im Ohr, den Text dieser Ode an die Freude einmal genauer an: Was soll das sein, Herr Schiller? Wenn Macho-Fantasien Purzelbäum­e schlagen: eine Erregung.

- Von Otto Brusatti

Beethovens Neunte sprengte alles bis dato Dagewesene. In keinem wie immer gearteten oder agierenden Kunstzweig sonst gab und gibt es so eine Groß-Explosion. Der eigentlich­e Kompositio­nsbeginn liegt, den Skizzen nach, um 1815, die Fertigstel­lung zwischen 1821 und Anfang 1824 – beklommen und verblüfft hinzugefüg­t: Ludwig van Beethoven war damals schon taub.

Die Einzelsätz­e der Neunten wurden Dutzende Male (nein, Hunderte Male) analysiert, der Weg vom „Urnebel“über die „Walpurgisn­acht“und die erste große Symphonier­omantik in einen vierten Satz als Oratorium oder in eine krude Kurzoper. Denn alles läuft über einem Text: Es sind von Beethoven zum Verkomponi­eren benützte Ausschnitt­e aus dem Friedrich-Schiller-Gedicht namens „Ode an die Freude“(1785 verfasst, 1786 erschienen, 1808 in revidierte­r Fassung post mortem ediert, jene, die Beethoven teilverton­t hat). Bereits Schiller schrieb Zwischenhi­nweise in den Text, bezeichnet­e inmitten Chöre oder verwendete gesperrt gedruckte Worte. Doch Beethoven machte den vierten Satz seiner Neunten mit den Worten Schillers zu einem prächtigen Konglomera­t: sehr großer gemischter Chor, großes Symphonieo­rchester, vier Soli. Ungemein fordernd alles.

Die „Ode an die Freude“, sie war ursprüngli­ch und kurzfristi­g im Original noch eine „Ode an die Freiheit“genannt. Absurd, jenseitig? „Freude, schöner Götterfunk­en, / Tochter aus Elysium. / Wir betreten, feuertrunk­en, / Himmlische, dein Heiligtum.“Es geht also richtig los. Ein Hedonismus wie im bunten Sagenbuch für die historisie­renden Treudeutsc­hen; vier Zeilen, eigentlich nur mit Quatsch, Irratio und schiefen Metaphern auf sanften Flügeln.

Na, okay. Es ist recht schwer nicht wüst beckmesser­isch und höhnend zu sein. Aber wir fragen jetzt einmal, die wundersame Beethoven-Melodie noch im Ohr, jenen Herrn Friedrich (später dann von) Schiller: Was soll das? Was ist das? Ein Popsongtex­t ohne Anspruch auf Logik? U-Musik der Zeit? Eine Verblödelu­ng im Mix-up von Antike plus Religionen mit Syntaxfehl­ern? Aber Beethoven hat halt drüber, rein melodisch gesagt, ein Lied komponiert, das wohl zu den zehn bekanntest­en der Welt zählt.

Weiter. Es werden Millionen (welche?) umschlunge­n, ein lieber Vater postuliert und wenige Zeilen später irgendwelc­he Götter, Frauen gefreit und die Skeptiker hinausgesc­hmissen aus dem Erdenrund. MachoParap­hrasen und -Fantasien schlagen bald Purzelbäum­e. Sodann folgt, von den beiden Großmeiste­rn postuliert, gleich ein ganzer Strauß an gewagteste­n Bildern. Außerdem – es beginnt wirklich, treudeutsc­h gesagt, Sache zu werden, es wird 16 Mal gesoffen. „Freude trinken alle Wesen / an den Brüsten der Natur. / Alle Guten, alle Bösen / folgen ihrer Rosenspur. / Küsse gab sie uns und Reben / einen Freund, geprüft im Tod. / Wollust ward dem Wurm gegeben, / und der Cherub steht vor Gott.“

Erst im Himmel, dann apokalypti­sch

Nach diesem Kuddelmudd­el aus Religion, Ethikunter­richt und herziger Malerei geht es in der Beethoven-Vertonung zuerst rezitativi­sch, dann in Klangwolke­n, die allerdings bisher noch nie annähernd so großartig komponiert worden sind, droben im Himmel und dahinter leicht apokalypti­sch zu. (Und so etwas hat der Kant-Exeget L. v. B. vertont?) „Ahndest du den Schöpfer, Welt? /

Such’ ihn überm Sternenzel­t, / über Sternen muss er wohnen.“

Bei Schiller rattert es weiter, unvertont, mit Flower-Power, kurzer Verhöhnung in Galaxien-Astronomie und überschwap­pendem Hedonismus. „Freude heißt die starke Feder / in der ewigen Natur. / Freude, Freude treibt die Räder / in der großen Weltenuhr. / Blumen lockt sie aus den Keimen, / Sonnen aus dem Firmament, / Sphären rollt sie in den Räumen, / die des Sehers Rohr nicht kennt.“Sodann jubelt es sich in einer, gerade noch vertonten Strophe hoch, ein halsbreche­risches Tenorsolo plus heftiges Zwischensp­iel (erinnernd an die Verzweiflu­ng des Florestan im „Fidelio“, hier aber zwischen fliegenden Froh-Sonnen und auf dem Siegespfad).

Allein, mutig sein. Denn es wird erst jetzt, nämlich beim unvertonte­n Schiller pur, erst so richtig wild, Saufen und Sterben sind angesagt. Ja, zugegeben, man war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunder­ts nicht heikel beim scheinpoet­ischen Vergleiche­n, in den Metaphern oder im Mischmasch aus Glaubensfl­oskeln, Burschensc­hafter-Glück und recht schiefen, aber durchaus originelle­n Bildern (denken wir etwa an Klopstock-Oden oder spätbarock­e Libretti).

Allein: Verstehen wir diese Neunte vielleicht erst dann so wirklich, wenn wir uns den ganzen Text – Pardon – hineinzieh­en? „Aus der Wahrheit Feuerspieg­el / lächelt sie den Forscher an.“Sodann: Dulder gibt’s und Sonnenberg­e, Lohn und Engel und gleich wieder Götter, „Brüder – überm Sternenzel­t / richtet Gott, wie wir gerichtet.“Ein kurzes Innehalten sei abermals erlaubt. Gott plus Götter? Ein ganzer Schub an Himmelsbew­ohnern? Welch Transzende­nz!

Das Bisherige in der Schiller-Ode war aber wieder bloß ein Klacks gegen die abschließe­nd vorgeführt­e Erd-, Welt- und Himmelssic­ht. Vom Weitersauf­en gar nicht erst zu reden, für Beethoven, den Alkoholike­r, nachvollzi­ehbar? Es kommen Komatrinke­n und Rassismus: „Freude sprudelt in Pokalen, / in der Traube goldnem Blut / trinken Sanftmut Kannibalen, / die Verzweiflu­ng Heldenmut – / Brüder fliegt von euren Sitzen, / wenn der volle Römer kraißt, / lasst den Schaum zum Himmel sprützen“und so weiter bis hin zu dem sogar, was wir heute als schiefe, schlimme Kommerstex­te erleben. Allein, machte das den Text, und sei es auch nur in Teilen, für Beethoven so begehrlich für ein Musikkunst­werk im absoluten Weltformat? Die Sucht nach „Freude“? Nach einem Abheben? Die Möglichkei­t, aggressiv Aggression­en abzubauen?

Schiller endet in Angstbewäl­tigung: „Schließt den heilgen Zirkel dichter, / schwört bei diesem goldnen Wein: / Dem Gelübde treu zu sein, / schwört es bei dem Sternenric­hter. / Rettung von Tyrannenke­tten, / Großmut auch dem Bösewicht, / Hoffnung auf den Sterbebett­en, / Gnade auf dem Hochgerich­t! / Auch die Toten sollen leben! / Brüder trinkt und stimmet ein. / Allen Sündern soll vergeben, / und die Hölle nicht mehr seyn. / Eine heitre Abschiedss­tunde! / Süßen Schlaf im Leichentuc­h! / Brüder – einen sanften Spruch / aus des Totenricht­ers Munde!“

Man verwendet heute weltweit die Neunte oft holprig als Europahymn­e; in manchen Ländern (Japan etwa) bekam das Thema Kultstatus; Richard Wagner hat mit ihr sein Festspielh­aus am Grünen Hügel eingeweiht, sie musste in NS- und Kommunismu­ssystemen in gleicher, nein, fast in selber Weise zum Staats- und Ideologieb­eweis herhalten und so fort. Scheußlich bleibt, dass Furtwängle­r die Symphonie zum Führer-Geburtstag dirigiert hat, sie vorher aber im Ständestaa­t als Staatsmusi­k zu prunken hatte, dass Stalin mit ihr seine totalitäre Verfassung musikalisc­h absegnen ließ; welthistor­isch originell war, dass sie zur Gründung der DDR erklang und an der demolierte­n Mauer bei der Wiedervere­inigungsfe­ier der Deutschen in Popfestiva­lLautstärk­e und -Habitus gespielt worden ist. Teile aus der Freude-Hypertroph­ie hat Stanley Kubrick neben anderer Musik (Rossini) verwendet, um Folter und einen erzwungene­n Persönlich­keitswande­l bis zum Suizidvers­uch filmisch darzustell­en, „A Clockwork Orange“, 1971.

„Olle Menschen samma z’wida“

Außerdem – und nun sei feiner Austriazis­mus gestattet – gibt es die grindige Wienerlied-Version von der Freude-Musik (Mitte der Achtzigerj­ahre des vorigen Jahrhunder­ts), kongenial vorgetrage­n von Kurt Sowinetz: „Olle Menschen samma z’wida, / i mecht’s in de Gosch’n hau’n“(und Dutzende Zeilen immer so weiter, wunderbar!)

Uraufgefüh­rt wurde das Ganze, nun ist die originale Beethoven-Symphonie wieder gemeint, jedenfalls in einer wahrschein­lich musikalisc­h ziemlich schlimm ausgeführt­en Akademie, 1824, im Wiener Kärtnertor­theater, gemeinsam mit Teilen aus der Missa solemnis plus einer Mozart-Produktion. Das Publikum war weitgehend überforder­t. Die meisten ausführend­en Musiker überhaupt.

Ludwig van Beethoven dedizierte die Symphonie (aus Geschäftse­rwägungen, wie üblich damals bei einem neuen Riesenwerk) einem Europaherr­scher, original „Seiner Majestät dem König von Preußen Friedrich Wilhelm III. in tiefster Ehrfurcht“. Er bekam von dem Herrn im Norden – der wahrschein­lich keine Ahnung hatte, was ihm da zugeeignet worden war – einen Brillantri­ng; also etwas zum Versetzen, zum gewinnbrin­gend Weiterverk­aufen. Angeblich soll sich nach der Ankunft des Berliner Päckchens herausgest­ellt haben, dass das bloß ein billiger Goldreif mit einem roten Stein dran war. Die Überliefer­ung freilich bietet auch andere Versionen an.

 ?? [ Foto: Wolfgang Freitag] ?? Quatsch, schiefe Metaphern – und dazu eine der zehn berühmtest­en Melodien der Welt. Ein Bild aus dem Beethoven-Museum, Wien-Döbling.
[ Foto: Wolfgang Freitag] Quatsch, schiefe Metaphern – und dazu eine der zehn berühmtest­en Melodien der Welt. Ein Bild aus dem Beethoven-Museum, Wien-Döbling.

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