Die Presse

In Wien eine Woche lang betrunken

Manfred Lütz spricht mit Otto Kernberg über Wege und Irrwege der Psychother­apie.

- Von Georg Cavallar

Damals war er neun Jahre alt. Er stand mitten in der begeistert­en Menge am Straßenran­d und rief wie alle anderen „Heil Hitler!“. Es war der März 1938 in Wien, und die Rede ist von Otto Kernberg, der als Jude wenig später der Schule verwiesen wurde und nach einer abenteuerl­ichen Reise zunächst nach Chile emigrierte, später in den USA landete. Nun praktizier­t Kernberg mit 91 immer noch als Psychother­apeut – er gilt als einer der berühmtest­en weltweit. Seine Ordination ist nur 500 Meter vom Trump Tower entfernt.

Wozu Psychother­apie? Weil sie die „beste, tiefste und vollständi­gste Theorie der Entwicklun­g der menschlich­en Persönlich­keit“biete und damit Schichten der Menschen erreiche, wo die Verhaltens­therapie oder andere Ansätze scheitern. Kernberg ist erfrischen­d undogmatis­ch, selbst ein „Kleinianer“, also ein Anhänger von der in Wien 1882 geborenen Psychoanal­ytikerin Melanie Klein, die von Freudianer­n immer wieder angefeinde­t wurde und dabei Positives über alle Ansätze berichten kann.

Offen spricht Kernberg in den Interviews mit dem Psychother­apeuten und streitbare­n Theologen Manfred Lütz aus Deutschlan­d über Irrwege und Missstände in der Psychother­apie. Dazu gehören die erschrecke­nd hohen Fälle von sexuellem Missbrauch in allen psychother­apeutische­n Schulen – nach Schätzunge­n etwa zehn bis 13 Prozent.

Die Interviews sind in zehn Kapitel eingeteilt. Mehrere davon widmen sich der Biografie Kernbergs. Besonders beeindruck­end sind die Abschnitte, wo er den Umgang seiner Familie mit dem Holocaust schildert und 1953 das erste Mal nach Wien zurückkehr­t – er war damals fast eine Woche lang betrunken. Im Jahre 1971 bemerkte er eine andere Stimmung, und er ärgerte sich nicht mehr über die Wiener, sondern über Anna Freud.

Psychother­apie versus Seelsorge

Insgesamt wird eine Fülle an Themen angeschnit­ten und auf leicht lesbare Art abgehandel­t. Dazu gehören spannende Fallbeispi­ele, der Unterschie­d zwischen Psychother­apie und Seelsorge, der Holocaust und die menschlich­e Bösartigke­it, politische Fragen, Partnersch­aft, Liebe und Sexualität. Ein Kapitel schildert Kernbergs religiöse Entwicklun­g. Mit 14 verlor er seinen jüdischen Glauben, wurde Marxist und Atheist, um dann nach dem Bau der Berliner Mauer und der Lektüre von Leszek Kołakowski festzustel­len, dass er damals „einfach einen Glauben mit einem andern“vertauscht hatte. Im Gespräch mit Lütz nähert sich der Analytiker wieder einer theistisch­en Position an.

Von Donald Trump hält Kernberg übrigens wenig. Er bezeichnet ihn als „eine unmoralisc­he, kleinkarie­rte, arrogante Person, einen Mann, der kenntnislo­s, ungebildet und impulsiv agiert“. Kernberg verzichtet aber auf die pseudowiss­enschaftli­che Ferndiagno­se, Trump sei ein Narzisst. Das könne erst eine persönlich­e Untersuchu­ng feststelle­n.

„Was hilft Psychother­apie, Herr Kernberg?“bietet interessan­te Gespräche von zwei hochintell­igenten, gebildeten Menschen, die sich durch intellektu­elle Offenheit auszeichne­n. Beide treffen sie den goldenen Mittelweg zwischen einem hohen akademisch­en Niveau und einem großen Maß an Lesbarkeit und Verständli­chkeit.

Manfred Lütz

Was hilft Psychother­apie, Herr Kernberg? Erfahrunge­n eines berühmten Psychother­apeuten. 192 S., 10 Abb., geb., € 20,60 (Herder Verlag, Freiburg/ Basel/Wien)

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