Schatten eines Abscheus
Er hat das Image des zynischen Skandalautors – womit er selbst auch spielte. Doch mit seinen neuesten „Interventionen“erweist sich Michel Houellebecq immer klarer als sonderbarer Menschenfreund, der Nähe und Mitgefühl über alles stellt.
Er werde sich in gesellschaftlichen Fragen nicht mehr zu Wort melden, schreibt der 63-jährige Michel Houellebecq im Vorwort zu „Nouvelles Interventions“, seinem jüngsten Buch. Außer: bei „schwerer moralischer Dringlichkeit“– wie etwa der Legalisierung der Sterbehilfe.
In der soeben erschienenen deutschen Ausgabe „Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen“findet sich dieses Vorwort nicht. Doch ebenso wie der umfangreichere französische Band (er enthält auch schon früher publizierte Texte) schließt „Ein bisschen schlechter“mit einem Essay über den sechs Jahre geführten Rechtsstreit um den Wachkoma-Patienten Vincent Lambert. Er starb 2019 elf Jahre nach einem Autounfall und kurz nach Beendigung der künstlichen Ernährung. Niemand wisse, ob WachkomaPatienten träumen, schreibt Houellebecq, und „schon ein Leben, das nur aus Träumen besteht, ist es in meinen Augen wert, gelebt zu werden“. Die Ehre einer Gesellschaft bestehe darin, „diesen beschwerlichen Luxus auf sich zu nehmen, den die Last der Unheilbaren, der Nutzlosen, der Unfähigen für sie bedeutet“. So wie Sparta werde unsere effizienzorientierte Gesellschaft vielleicht einmal nur „die ungewisse Erinnerung an eine Schande, der Schatten eines Abscheus sein“.
Angesichts von Houellebecqs Entwicklung ist es nur adäquat, eine Sammlung von Essays und Gesprächen mit diesem brennenden Plädoyer enden zu lassen statt mit einer genüsslichen Polemik oder auch seinem abschätzigen Nachdenken über die Corona-Epidemie. Die findet er zugleich „beängstigend und langweilig“. Ein „banales Virus, auf wenig glanzvolle Weise mit unbedeutenden Grippeviren verwandt“, „nicht einmal sexuell übertragbar: ein Virus ohne Eigenschaften“. Erwartbar auch seine Haltung zu den Jetzt-ändert-sich-die-Welt-Prophetien: Die Welt „wird dieselbe sein wie vorher, nur ein bisschen schlechter“.
1994 erschien „Ausweitung der Kampfzone“, vier Jahre später „Elementarteilchen“. Beide Romane zeichneten ein vernichtendes Bild der Liberalisierung und damit (dem Autor zufolge) Ökonomisierung der sexuellen Beziehungen. Houellebecq sieht darin wie im Kapitalismus den Sieg der Starken. So schockierend und desillusioniert waren seine Schilderungen (bis hin zur Ermunterung zum Sexualmord durch seinen ersten Protagonisten), dass Houellebecq bis heute das Image des zynischen Skandalautors nachhängt.
Doch auch wenn er selbst gern damit spielt – unübersehbar wurde mit der Zeit der sonderbare Menschenfreund, der Nähe und Mitgefühl über alles stellt (verkörpert in liebevoller Sexualität) und vor allem eines hasst: die grausame Natur – beziehungsweise eine Gesellschaft, die deren Gesetze walten lässt. So ist er auch durchaus für die gentechnische Veränderung des Menschen, wenn es dessen Glück dient („Ich will mich da nicht von Humanisten nerven lassen“).
Autor Fred´eric´ Beigbeder bringt in diesem Buch in einem Gespräch mit seinem Kollegen das Missverständnis auf den Punkt: Houellebecq sei ein „fast schon christlicher, romantischer Moralist, den die ganze Welt für einen dekadenten und atheistischen Nihilisten hält“. Ja, weil es heute schon als nihilistisch gelte, „wenn du dir beim Warten auf den TGV eine Zigarette ansteckst“, antwortet dieser. Und weil man ihn als Verkörperung dessen sehe, was er „so glänzend“beschreibe. Er schildere „die Schrecken einer Welt ohne Gott“, das könne sogar einige zum Glauben treiben.
Und Houellebecq erzählt amüsiert von dem Mann, der ihm bei einer Lesung in Israel gesagt habe, er sei nach der Lektüre seiner Bücher Rabbiner geworden. Zum Glauben trieb es auch Houellebecq, angekommen ist er dort nie. Der Roman „Unterwerfung“– der mit der Konversion des Protagonisten zum Islam endet – hätte mit einer christlichen Konversion enden sollen, erzählt er. Doch da es mit der eigenen dann doch nicht klappen wollte, habe er nicht glaubwürdig davon erzählen können. So also wurde Universitätsprofessor Francois¸ zum Muslim – aus Kalkül und Resignation.
Auch seine Islamfeindlichkeit sei ein großes Missverständnis, versichert Michel Houellebecq. Der Islam habe ihn in Wahrheit „nie interessiert“. Er beschreibe im Roman auch keine wirklich Gläubigen, sondern Opportunisten, die „die Islamkarte spielen“. Und er fühle sich verpflichtet, „Islamophobie zu verteidigen, ob ich nun selbst islamophob bin oder nicht“; denn „man muss arbeiten können, ohne Angst vor Zensur zu haben. Das Verbot ist eine Mechanik, die nie zum Stehen kommt.“
Natürlich treten wieder Houellebecqs philosophische Langzeit-Wegbegleiter auf – Blaise Pascal, Schopenhauer, Auguste Comte, Paulus. Letzterer sei mit seiner Unmittelbarkeit und seiner „Mischung aus Größenwahnsinn und Klage“seine größte literarische Inspiration, sagt Houellebecq. Aber auch von einer Neuentdeckung erzählt er – dem „genialen“Theodor Fontane.
Kein Wunder, zählt sich der Franzose doch zum Typus des Konservativen, der, wie er versichert, „alles in allem ein sehr ungefährliches Individuum“sei. Freilich ist auch hier seine Lust offenkundig, die Inhalte fix und fertig geordneter Denkschubladen durcheinanderzuwerfen. Konservativismus wurzle in intellektueller Faulheit, argumentiert Houellebecq, und Faulheit könne die Mutter der Effizienz sein. Und er erklärt sowohl Wissenschaft als auch „echte Revolution“für konservativ: Wissenschaftler würden eine Theorie, die eine „wertvolle, hart erkämpfte Sache“sei, nur aus schwerwiegenden Gründen aufgeben: dann aber gründlich. So könne der Konservativismus „Quelle des Fortschritts“sein.
An anderer Stelle amüsiert er sich wieder einmal über das frühere Drängen der „Feministinnen“in die Arbeitswelt, das doch nur neue Unterdrückung gebracht habe; oder über den Kampf gegen das Patriarchat, das die Zähmung des Mannes bedeutet habe; dieser sei von Natur aus ja nur vom Wunsch getrieben gewesen, seine Gene in alle Richtungen zu verspritzen.
Vieles in dem Buch ist natürlich im Jahr 2020 nicht nur konservativ, sondern reaktionär, und man will sich eine Gesellschaft mit allzu vielen Houellebecqs nicht wünschen. Aber doch mehr solcher Leute, die vor einem wichtigen Auftritt ihr Gebiss im Hotel vergessen (wie Houellebecq bei den Berliner Filmfestspielen) und einfach ohne auftreten; die auch dort, wo man ihre Meinungen gar nicht teilt, geistreich und amüsant irritieren, noch dazu oft tiefsinnig und hellsichtig.
Seit dem Jahr 2000 hat der DuMont Verlag im Zehnjahresrhythmus HouellebecqEssaybände publiziert. Der neue könnte zum Teil als Verwertung von „Gelegenheitstexten“abgetan werden. Aber dann ist das, was Houellebecq bei Gelegenheit hervorbringt, mehr wert als das, was so mancher Autor sich mühsam aus den Fingern saugt.