Heiliger Aloysius, bitte für uns!
Alois Brandstetters „Lebensreise“ist profane Generalbeichte und zugleich österreichische Kulturund Literaturgeschichte der Nachkriegszeit. In diesen Erinnerungen stecken viel akademische und menschliche Weisheit sowie Liebe zu den Wörtern.
Alois Brandstetter betreibt seit einiger Zeit eine autobiografische Bestandsaufnahme. Nach den „Lebenszeichen“berichtet er über seine „Lebensreise“. Vor Jahren wollte er sich nämlich mit dem „Lebensraum“seines Namenspatrons Prinz Aloysius von Gonzaga vertraut machen, hat im Jahr 2015 auch den Roman „Aluigis Abbild“veröffentlicht, aber „Damit nicht genug“, wie er schreibt, hat ihm seine Ehefrau zum achtzigsten Geburtstag einen Reisegutschein für eine „Wallfahrt“nach Castiglione „und das Versprechen ihrer Begleitung geschenkt“. Das neue Buch ist „das Protokoll dieser Lebensreise“mit Erinnerungen an frühere Italien- und Romfahrten, mit Anmerkungen zur literarischen und professoralen Sozialisation sowie seinem tief katholischen und an manchen Stellen frömmelnden Glauben.
Die Namenswahl nach Alois, schreibt Brandstetter, lasse auf ein christkatholisches Elternhaus schließen, man könne freilich nicht linear die Gesinnung des Namensträgers ableiten. Er sei mit dem Namen aber zufrieden, weil in seinem Geburtsmonat, dem Dezember 1938, viele Adolfs und Hermanns getauft oder ohne Taufe so genannt worden seien.
In der „Lebensreise“gibt Brandstetter beredt Auskunft zu seinem Werdegang vom Müllerssohn in Oberösterreich über den Studenten in Wien und zum Universitätsprofessor sowie Schriftsteller in Klagenfurt. Bilder und Szenen aus seiner Jugend in der oberösterreichischen und dem Leben in der Kärntner Provinz illustrieren das – von Literatur geprägte – Leben. Dabei wandelt er auf den Spuren seines Namenspatrons, den er in der Erzählung immer wieder anspricht wie in einem Briefroman, „verehrter heiliger Aloysius von Gonzaga“.
Das Buch ist eine österreichische Kultur- und Literaturgeschichte der Nachkriegszeit, aus der herauszulesen ist, welche großen Geister auch Kärnten beigesteuert hat: Ingeborg Bachmann, Werner Berg und Christine Lavant. Neben der Kultur bemüht Brandstetter immer wieder das Politische, wobei nicht unverborgen bleibt, was sein Metier ist. Das Buch ist so breit angelegt, dass er – neben Kultur und Politik – alle möglichen Themen anreißen und kommentieren kann, vor allem sein Lieblingsmotiv, die (Laien-)Theologie. Brandstetter outet sich dabei sozusagen als Marienverehrer und Bewunderer des emeritierten Diözesanbischofs Egon Kapellari, der Monsignore Otto Mauers Armbanduhr geerbt „und einmal stolz und schmunzelnd vorgezeigt hat“.
Nicht verhehlt sei, dass er dabei gern mit seinem Wissen prunkt, was dem emeritierten Altphilologen unbenommen zu bleiben hat, weshalb sich die Erzählung wie ein populärwissenschaftliches Lehrbuch liest. Ein Exkurs jagt dabei den anderen. Langweilig wird es nie, streckenweise ist es sehr spannend. Eigentlich könnte man das Buch als lockere Essaysammlung bezeichnen. Störend sind nur die redundanten Ausflüge. Es genügt, beispielsweise, wenn man Franz Innerhofer auf vierhundert Seiten einmal als „Kafka der Bauern“bezeichnet. Die Wiederholungen sind aber weniger dem Autor als vielmehr der Lektorin anzulasten. Auch hätte sie wissen müssen, dass Päpste, konkret Benedikt XVI., nicht demissionieren, sondern resignieren. Fast unverzeihlich ist, dass er Paul Flora als einen Karikaturisten apostrophiert, was sich der Künstler zeitlebens verbeten hat. Er selbst hat sich immer und nur Zeichner genannt.
Die „Lebensreise“ist streng genommen eine assoziative Prosa, in der der Autor aus einer Geschichte in die andere führt. Er beschäftigt sich sogar, was verwundern mag, mit ethischen Problemen des englischen Königshauses in Vergangenheit und Gegenwart. Messerscharf analysiert er, dass der Austritt aus der Europäischen Union schon der zweite Brexit sei, denn der erste wäre der „Abfall König Heinrichs VIII. von Rom“. Dabei muss man anerkennen, dass bisher keiner der vielen und gewitzten Kommentatoren diese Tatsache aufs Tapet gebracht hat.
Das Vatikanisch-Katholische ist sozusagen sein Hauptproblem. Auf Seite 212 bestätigt Brandstetter das permanente Lektüregefühl, dass er ein ganzes Leben lang Gewissensbisse hatte, nicht Priester geworden zu sein. Als Hobbytheologe kennt er sich, nebenbei bemerkt, von Alba bis Zingulum in allem aus.
Interessant ist, dass Alois Brandstetter den Roman „Die Mühle“als sein „Hauptwerk“betrachtet, die Bemerkung, er nenne sie seinen „Nachsommer“, ist leider nicht notwendig und zu strebsam. „Einen gewissen Ehrgeiz, der sich ja nicht bis zur Ruhmsucht steigern soll, darf man auch Schriftstellern schon zubilligen.“Meint er im O-Ton, womit er auch recht behalten soll. Außerdem habe Sigmund Freud gemeint, der Anerkennungstrieb sei stärker als der Geschlechtstrieb. Er habe, was weniger bekannt ist, auch immer gemalt. „Dem Schreiben galt meine glückliche und dem Malen meine unglückliche Liebe.“
Ob all seines römischen Katholizismus ist ein Bekenntnis geradezu erfreulich. „Ein Philologe hat allen Grund, Luthers Bedeutung für die deutsche Sprachgeschichte hochzuhalten. Ich bin kein Theologe, ich bin Philologe. Und als Philologe gewissermaßen auch ,Lutheraner‘.“
Seine „Lebensreise“beschließt er mit Bemerkungen und Gedanken über die Covid-19-Pandemie, wobei er sich naturgemäß auf die erste Welle nach dem Februar 2020 beschränkt und sinngemäß den Heiligen Aloysius anruft, der für uns bitten möge.
Insgesamt stecken in der „Lebensreise“viel akademische und menschliche Weisheit sowie eine spürbare Liebe zu den Wörtern. Alois Brandstetters „Lebensreise“ist kein Weg von A nach B, sondern einer mit Seitenwegen, die das Salz dieses Buchs sind. Es ist, wie er selbst meint, kein Durchmarsch, sondern ein umwegfreundliches Schlendern. Eine Generalbeichte über seine Gedanken, Worte und Werke. Die Theologen behaupten ja, dass eine solche Beichte zu einer gründlichen Selbsterkenntnis verhelfe und eine Beruhigung des Gewissens bewirke.