Wer wohl in der Hütte war?
Claudia Sammers Geschichte zweier Mädchen, die geheimnisvoll miteinander verbunden sind.
Vielversprechend klingt der Titel des Buches von Claudia Sammer: „Als hätten sie Land betreten“. Die Wahl des Inhalts ist mutig, obwohl es wieder einmal um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus geht. Kann darüber noch etwas Neues geschrieben werden? Eventuell wenn es darum geht, sich diesem Thema aus Sicht der dritten Generation zu nähern. Claudia Sammer wählt nicht nur eine etwas andere Perspektive als ihre Vorgänger – sie erzählt aus der Sicht dreier Frauen, von denen eine mit dem Regime sympathisiert –, auch das Setting ist unüblich: Die Schlüsselszene spielt nämlich in einem Kloster.
Dazu kommt, dass die Autorin eine besonders reflektierte Form wählt. Sammer erzählt nicht einfach nur eine Geschichte mit Moral und diversen Dreh- und Angelpunkten, sie hantelt sich an der Biografie mehrerer Frauen aus unterschiedlichen Generationen entlang. Jedes Kapitel trägt den Namen einer Frau, aus deren Sicht das Folgende berichtet wird. Jedem dieser Abschnitte ist ein passendes Zitat vorangestellt, das die biografisch anmutenden Ereignisse beleuchtet und hinterfragt.
Auch in der Binnenstruktur des Textes arbeitet die 1970 in Graz geborene Autorin recht ungewöhnlich: So hat sie die Anführungszeichen in den Dialogen eliminiert, zitiert aus Briefen und lässt Leerstellen zwischen den Passagen. Eine Grabinschrift darf ebenso nicht fehlen. Damit sind wir beim Hauptthema: dem Tod. Denn damit beginnt paradoxerweise der Roman: „Der Tod war gestern unerwartet gekommen“, heißt es im ersten Kapitel, „Dorothea“– und danach fängt die Reise an.
Eine Reise, die nicht linear zurück ins Leben geht, sondern immer wieder zwischen den Polen Alter und Kindheit springt. Dazwischen gibt es wiederholt Leerstellen; vieles wird ausgespart. Plastisch hingegen sind die Schilderungen der ersten Lebensjahre. Wir treten ein in die magische und dichte Welt der nicht jüdischen Lotti, die sich in den 1930er-Jahren mit Veza, einem jüdischen Mädchen, anfreundet. Lotti führt Veza sogar in die Welt des Christentums ein. Die Beziehung zwischen den beiden scheint sehr stark zu sein. Denn auch als Veza verschwindet, lässt Lotti die Freundin nicht los.
Man hatte sich einmal die Woche gemeinsam zur Tanzstunde getroffen und war heimlich Hand in Hand den Berghang hinauf gewandert! Alles mutete magisch und feenhaft, spannend, aber auch bedrohlich an. Früh entdecken die beiden Mädchen eine Hütte, die wohl einmal bewohnt gewesen sein muss: „In der Hütte hatten sie eine fleckige Matratze gefunden, eine umgedrehte Obstkiste und alte Zeichnungen“, heißt es da.
Der geheimnisvolle, gespenstische Aspekt des Verschwindens wird hier bereits spürbar, aber auch das Gefühl von Flucht: „Sie malten sich aus, wer hier gehaust haben mochte, ein Flüchtiger vielleicht, suchten das Innere nach Zeichen ab.“Was die beiden Mädchen hier tun, das nimmt quasi ihr ganzes Leben vorweg: Auch Veza wird fliehen, und Lotti wird im Alleingang eine Spurensuche beginnen, die ihre Enkelin wiederaufnehmen wird.
Was dann folgt, sind Rekonstruktionen der Vergangenheit, sind Biografien von Frauen, die sich ineinander spiegeln. Erst nach ihrem Tod erfährt Lottis Familie nämlich von Vezas Existenz – und diese bleibt nicht ausschlaggebend für die Entwicklung von Lottis Enkelin Alma, die ihre Großmutter liebte. Nach deren Tod entdeckt Alma die von ihr gemalten Bilder, die an Glas erinnern, und macht sie in einer Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Aber es bleiben Fragezeichen. Wie haben Vezas letzte Stunden ausgesehen? Nichts als ein zarter Briefwechsel zweier Mädchen, aufgefunden im Nachlass, gibt darüber Auskunft.
Claudia Sammers Text ist spröde, spannend, sensibel und riskant. Manche Passagen muten zu beliebig an und fügen dem Text keine Aspekte hinzu. Dennoch ist „Als hätten sie Land betreten“ein überaus mutiger und sprachlich facettenreicher Text. Claudia Sammer besticht durch eine eigenwillige formale Konstruktion, die aber nie verkopft wirkt – und hat mich so als Leserin für sich eingenommen.