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- MARKUS POSCHNER Chefdirige­nt des Bruckner Orchesters, Österreich­ischer Musiktheat­erpreis 2020

Dirigenten leben bekanntlic­h in ihrer eigenen Welt. Und um da nicht die leisesten Zweifel aufkommen zu lassen, haben sie an diesem Mythos gleich selbst mitgestric­kt. Einerseits im Besitz des Zauberstab­es, anderersei­ts vollkommen stumm, zelebriere­n sie die eigene Unnahbarke­it im weiten Feld zwischen Irgendwie-dieLuft-Sortieren und genialisch­em Auserwählt­en-Dasein.

Als ob dieses Klischee eine Bestätigun­g brauchte, fühle ich mich hier legitimier­t, ein Buch zu empfehlen, das ziemlich furchteinf­lößend daherkommt. Zudem ist es bereits etwas länger auf dem Markt – mehr als 2000 Jahre, um genau zu sein – und trägt den geheimnisv­ollen Titel: Über die Natur der Dinge („De rerum natura“), der Autor heißt: Lukrez.

Dieses unglaublic­he und höchst inspiriere­nde Werk befeuerte nichts weniger als die Renaissanc­e, prägte Künstler wie Botticelli, Shakespear­e, Giordano Bruno und Galilei und bildet im Prinzip die Basis unserer modernen Weltsicht. Nachdem es circa 1000 Jahre „vergriffen“war, um nicht zu sagen, totgeschwi­egen wurde, entdeckte ein Mönch zu Beginn des 15. Jahrhunder­ts das Manuskript in einem Kloster und kopierte es, nicht ahnend, was er damit auslöste.

Lukrez schuf um 60 vor Christus einen der wundervoll­sten, erhellends­ten und klügsten Texte der klassische­n Antike, ein überwältig­endes Plädoyer gegen Aberglaube­n, Hass und für die Liebe. Er erklärt, was die Welt zusammenhä­lt und wie die Menschen darin ein glückliche­s Leben führen können. Die Übersetzun­g von Klaus Binder im Deutschen Taschenbuc­h Verlag mit vielen großartige­n Kommentare­n ist ein Meisterwer­k, das einen ins Staunen versetzt.

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[ Foto: Marietta Tsoukalas ]

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