Was ich lese
Dirigenten leben bekanntlich in ihrer eigenen Welt. Und um da nicht die leisesten Zweifel aufkommen zu lassen, haben sie an diesem Mythos gleich selbst mitgestrickt. Einerseits im Besitz des Zauberstabes, andererseits vollkommen stumm, zelebrieren sie die eigene Unnahbarkeit im weiten Feld zwischen Irgendwie-dieLuft-Sortieren und genialischem Auserwählten-Dasein.
Als ob dieses Klischee eine Bestätigung brauchte, fühle ich mich hier legitimiert, ein Buch zu empfehlen, das ziemlich furchteinflößend daherkommt. Zudem ist es bereits etwas länger auf dem Markt – mehr als 2000 Jahre, um genau zu sein – und trägt den geheimnisvollen Titel: Über die Natur der Dinge („De rerum natura“), der Autor heißt: Lukrez.
Dieses unglaubliche und höchst inspirierende Werk befeuerte nichts weniger als die Renaissance, prägte Künstler wie Botticelli, Shakespeare, Giordano Bruno und Galilei und bildet im Prinzip die Basis unserer modernen Weltsicht. Nachdem es circa 1000 Jahre „vergriffen“war, um nicht zu sagen, totgeschwiegen wurde, entdeckte ein Mönch zu Beginn des 15. Jahrhunderts das Manuskript in einem Kloster und kopierte es, nicht ahnend, was er damit auslöste.
Lukrez schuf um 60 vor Christus einen der wundervollsten, erhellendsten und klügsten Texte der klassischen Antike, ein überwältigendes Plädoyer gegen Aberglauben, Hass und für die Liebe. Er erklärt, was die Welt zusammenhält und wie die Menschen darin ein glückliches Leben führen können. Die Übersetzung von Klaus Binder im Deutschen Taschenbuch Verlag mit vielen großartigen Kommentaren ist ein Meisterwerk, das einen ins Staunen versetzt.