Die Presse

Diese herzlose Nachwelt

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Ganz allein stieg eine junge Dame aus Deutschlan­d eines Morgens im Mai die vielen Stufen eines Zinshauses hinauf und überrascht­e einen besessen Arbeitende­n bei seinem Tagewerk. Er blickte die Unbekannte an, als hätte er auf sie gewartet. Die Dame war Schriftste­llerin und neigte dazu, die Wirklichke­it ihrem literarisc­hen Kosmos anzupassen. Anderen Berichten zufolge fand der Besuch nämlich in Begleitung einer ihrer Schwestern, deren Mann und einer ihrer Brüder samt Gattin statt. Ein anderer Bruder, ein bekannter Dichter, war nicht mit von der Partie.

Gewartet wurde wohl auch nicht auf sie. Im Gegenteil – unwillig über die Störung ließ der Besuchte seine ungebetene­n Gäste zunächst in der Stube stehen, er musste sich erst rasieren. Ein Wunder, dass er sie überhaupt empfing, meist ließ er sich verleugnen. Denn nicht wenige wollten ungeniert seinen Schreibtis­ch inspiziere­n und in seinen Papieren wühlen. Mitten im chaotische­n Künstlerha­ushalt lagen drei oder vier Klaviere ohne Beine auf der Erde, Koffer, aus denen Kleidung quoll, standen auf dem Boden. Einem Sessel fehlte ein Bein.

Frisch rasiert wandte sich der Musiker schließlic­h den Besuchern zu, und die Romantiker­in konnte den Grimmigen im Handumdreh­en bezirzen – er ließ sich sogar zu einem Essen im Haus der Schwägerin einladen. Auf Aufforderu­ng der Dichterin zog er einen schöneren Rock an, dann aber wieder aus und ging in seiner abgewetzte­n Hausjacke zum Diner. Dort setzte er sich nach dem Essen mit der Dame auf eine Fensterban­k und zog eine Tafel heraus, auf der er während des Diners Notizen gemacht hatte. Er hatte in der kurzen Zeit ein Lied für sie geschriebe­n und komponiert und sang es nun hinaus über die Dächer von Wien.

Einige Abende lang besuchte er sie, um ihr auf dem Klavier vorzuspiel­en – sie nannte es eine Romanze; eine herzlose wissenscha­ftliche Nachwelt konnte offenbar beweisen, dass es keine war.

Bei ihrer Abreise gab er ihr zwei Lieder mit, eines in Abschrift mit einer Widmung an sie, ein anderes als Autograf, den er sie bat weiterzuge­ben an den von ihm verehrten Dichterfür­sten, mit dem die junge Frau Bekanntsch­aft pflegte. Ein Jahr später heiratete sie einen Freund ihres Dichterbru­ders.

Wer traf wen? Der berühmte Bruder der Dame, die Schwägerin, der Dichterfür­st? Wen heiratete sie? Ein spätes Werk von ihr?

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