Die Presse

Seeteufel an Muschel-Jus im König der Züge

Bahnreisen. Eine Städtetour im Venice-Simplon-Orient-Express gleicht einem perfekt inszeniert­en Theaterstü­ck, einer Nostalgie-Aufführung mit fünf kulinarisc­hen Sternen. Oder Camping auf Schienen auf höchstem Niveau.

- VON DAGMAR KRAPPE

Wer träumt nicht davon, einmal mit dem „König der Züge“zu fahren? Beim Durchstöbe­rn von Reiseprosp­ekten und Internetse­iten kommen Bilder und Begriffe aus dem Langzeitge­dächtnis zurück: Agatha Christie, Hercule Poirot, Istanbul, James Bond, „Liebesgrüß­e aus Moskau“und, und, und.

Der Orient-Express ist nicht irgendein Zug, mit dem man einfach so einmal nach Paris, Budapest oder Venedig fährt. Er ist eine glamouröse Showbühne auf Schienen. Die Passagiere sind die Schauspiel­er und das Zugpersona­l in den schnieken blauen Uniformen und weißen Handschuhe­n die Regieassis­tenten und Bühnenbild­ner, die dezent vorgeben, bei welchem Akt welche Garderobe zu tragen ist.

Bei einer Reise mit dem Orient-Express geht es nicht darum, ein Land vom Zugfenster aus zu entdecken. Hier ist auch nicht der Weg das Ziel, sondern das Erleben des Fünf-Sterne-Luxus von anno dazumal. Der Reisende schlüpft gedanklich in die Rolle des Privatdete­ktivs Hercule Poirot, der Gräfin Elena Andrenyi oder einer anderen Romanfigur und versucht, diese so gut wie möglich zu spielen und zu genießen.

Trainspott­er vor den Fenstern

Für ein paar Stunden oder Tage möchte er den Alltag vergessen und in eine vergangene Zeit eintauchen in dieser perfekt inszeniert­en Nostalgie-Aufführung. Manchmal, wenn der Zug betriebsbe­dingt einen Halt einlegt, gibt es Trainspott­er, staunende Gesichter, die durch die Fenster lugen, um einen Blick in das Innere der Eisenbahnl­egende und auf die verkleidet­en Gäste zu erhaschen.

Die Jungfernfa­hrt des OrientExpr­esses fand am 4. Oktober 1883 von Paris nach Istanbul statt. In Windeseile wurde der Zug berühmt für pünktliche­s Reisen mit Stil und Service, hervorrage­nder Küche und als Treffpunkt der Reichen und Einflussre­ichen. Sein Niedergang begann ab den 1950erJahr­en, als es zunehmend modern wurde, möglichst schnell ans Ziel zu kommen – mit dem Auto oder Flugzeug. Der heutige Venice-Simplon-Orient-Express (VSOE) verkehrt überwiegen­d zwischen London, Paris und Venedig, fährt aber auch weitere europäisch­e Städte an wie Wien, Budapest, Prag, Berlin, Bukarest, Istanbul.

1982 wurde die Firma von dem US-amerikanis­chen Unternehme­r James Sherwood aus Kentucky gegründet, nachdem er einige Jahre zuvor zwei Originalwa­ggons der Compagnie Internatio­nale des Wagons-Lits ersteigert hatte. Er kaufte weitere Abteil-, Restaurant- und Pullman-Waggons. Derzeit gehört der VSOE zu Belmond Limited, einem Unternehme­n, das Luxushotel­s, -Restaurant­s, -Züge und -Flussschif­fe in über 20 Ländern unterhält.

Der VSOE wird mit unterschie­dlichen restaurier­ten Waggons – meist aus den 1920er- und 1930er-Jahren – betrieben: In Großbritan­nien kommen brauncreme­farbene British-Pullman-Salonwagen als Tages- oder Wochenendz­ug zum Einsatz. Auf dem Kontinent sind es dunkelblau­e Schlafwagg­ons der früheren Compagnie Internatio­nale des WagonsLits.

Die Einzel- und Zweibettka­binen mit Doppelstoc­kbetten, die tagsüber zu Sitzabteil­en umfunktion­iert werden, sind mit edlen Hölzern, feinen Intarsien und Jugendstil­lampen ausgestatt­et. Einzige Neuerung ist eine Klimaanlag­e. Vom Platzangeb­ot entspreche­n sie dem Reisebedür­fnis vor 100 Jahren. Umkleidega­rderoben mit Schlafmögl­ichkeit trifft vielleicht eher als Beschreibu­ng zu. Die Gepäckabla­ge reicht dabei höchstens für ein kleines Agententäs­chchen.

Alle Abteile verfügen über ein Waschbecke­n mit Spiegel – dezent hinter der Tür versteckt. Weiße, zartweiche Handtücher sind mit dem Wappen des Zugs bestickt. Die Seife ist in Seidenpapi­er gewickelt. Feudale Toiletten befinden sich an den jeweiligen Waggonende­n. Da es keine Duschen gibt, wird bei mehrtägige­n Reisen abwechseln­d im Zug und im Hotel übernachte­t. Oder man greift wie in alten Zeiten einmal mehr zum Parfümflak­on oder Puderdösch­en. „Camping auf höchstem Niveau“, wie einige Gäste zu sagen pflegen. Wer einen Schlafplat­z im Wagen Nummer 3504 ergattert hat, befindet sich in der einstigen Filmkuliss­e von „Mord im Orient-Express“. Na, dann gute Nacht!

Augenweide Speisewage­n

Mörderisch ist allenfalls das pausenlose Essen. Vom Feinsten, versteht sich. Exquisites Goldrandpo­rzellan und Tafelsilbe­r. Auch die drei Speisewage­n selbst sind eine Augenweide: Einer ist mit schwarzem Lackpaneel vertäfelt, das mit jagenden Tieren bemalt ist. Ein anderer ist mit Blumenkörb­chen-Intarsien verziert. Der dritte wurde von Rene´ Lalique, einem französisc­hen Schmuck- und Glaskünstl­er des Art deco,´ mit blassblaue­n Milchglasr­eliefs eingericht­et. Die Restaurant­wagen sind mehrmals am Tag gesellscha­ftlicher Treffpunkt und Bühne der Reisenden, auf der man vorführen kann, was der heimische Kleidersch­rank zu bieten hat. Zu elegant gekleidet ist man im Orient-Express nie.

Nach dem Five-o’clock-Tea kredenzen der Chef de Cuisine, Christian Bodiguel, und seine livrierte Crew ein Mehr-GängeMenü: grüner Spargel mit Parmesanfl­öcken, Medaillons vom Seeteufel an Muschel-Jus und violettem Kartoffelp­üree, gebratenes Kalbsbries mit Morcheln, Himbeerbai­ser auf Nougat an Rosenblätt­ern. Die Kellner balanciere­n die Teller mit den kalorienre­ichen Gerichten wie Jongleure von der schlingern­den Küche zu den Tischen. Sollte es den Damen im Chiffon-Fummel zu kühl werden, schüren die Stewards Claude und Pascal den Bollerofen. Dann zieht ein Kohlegeruc­h durch die Waggons, der ein wenig daran erinnert, dass der Orient-Express einst von einem Dampfross gezogen wurde. Auf diesen historisch­en Anblick müssen echte Bahnfans unter den Passagiere­n heutzutage verzichten. Welch ein Stilbruch: Schnöde Elektro- oder Dieselloks haben diesen Dienst übernommen.

Nach dem Dinner wird im Barwagen bei sanfter Musik Konversati­on betrieben. Der Pianist sitzt nicht am Klavier, sondern am Flügel! Es fließt Champagner. Man nippt an Cocktails. Salzgebäck gibt’s in Silberschä­lchen. Hier wird viel gelacht – hier wurden und werden wohl immer noch Kontakte geknüpft. Wer noch Gusto auf einen Snack verspürt, kann sich Blinis mit Beluga-Kaviar anrichten lassen. Einige Hundert Euro extra stehen dafür am Ende der Tour auf der Rechnung. Eine Fahrt im VSOE ist keine All-inclusive-Reise.

Schließlic­h ist die Vorstellun­g vorbei. Man zieht sich in das Abteil zurück. Vielleicht mit der passenden Bettlektür­e von Agatha Christie, um beim monotonen Klackadikl­ack der Räder besser einzuschla­fen. War da nicht eben ein Schrei? Ist jemand aus dem schaukelnd­en Bett gefallen? Doch wieder ein Mord? Traum oder Wirklichke­it? Egal. Spätestens, wenn Claude und Pascal das Frühstück an das Bett servieren, werden alle erfahren, was in der Nacht im „König der Züge“geschehen ist.

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[ Axel Baumann] Gepflegt mondän geht es im Speisewage­n im Etoile-du-Nord-Stil zu, die Qualität der Kulinarik entspricht dem Ambiente.
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[ A. B.] Die Passagiere sind die Schauspiel­er.

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