Wintertage in der neuen Fjord-City
Norwegen. In Oslo kommt der Fjord zum Menschen, gehen Kunst und Sauna Hand in Hand, spielt die Architektur herrlich verrückt: vom Barcode-Project bis zur Eisberg-Oper macht die Fjord-City ihre Wasserfront richtig chic. Ein Winterbesuch.
Zerborstene Planken, das Heck und der Mast zerquetscht von tonnenschweren, hoch aufragenden Eisschollen: Caspar David Friedrich schuf 1823 „Das Eismeer“– glanzloses Scheitern in Öl auf Leinwand. Das berühmte Gemälde hängt in der Hamburger Kunsthalle. Und ziemlich genau 700 Kilometer nördlich der Alster türmen sich wieder Eisschollen hoch, ganze zwölf Meter. Das gewaltige Gebilde treibt real im Fjord vor Oslo. Die Skulptur dreht sich mit Flut und Wind, ihr Glas spiegelt das Wasser und Stahl reflektiert das nordische Licht. Monica Bonvicini schuf mit ihrer Skulptur „Hun Ligger“eine moderne Interpretation des Eismeer-Gemäldes. Die Künstlerin hat Caspar David Friedrichs Ölbild dreidimensional übersetzt und die Bedeutung umgekehrt: Macht statt Ohnmacht treibt im Fjord vor der Oper von Oslo – eine Synthese zwischen Natur und Kultur.
Oslo, die Stadt am Fjord, umspült von viel Wasser, beschattet von noch mehr Wald, setzt mit kühnen Stadterneuerungsprojekten betont auf diese Schnittstelle. Der gesamte Uferbereich der Fjordstadt wird umgestaltet. Häfen wurden verlegt und der Hauptbahnhof modernisiert. Die fjordnahe Oslo Sentralstasjon ist nun täglich ein Hub für 150.000 Reisende, mit allen sechs U-Bahnen und dem neuen Flytoget-Airport-Terminal. Zwischen Bahnhof und Fjord liegt die Neue Oper – wie die Sydney Opera von spektakulärer Architektur direkt am Wasser.
Prachtblick von 34. Stock
Oslo macht Tempo auf dem Weg zur neuen Fjord-City: Da werden Tunnel und Schiffe versetzt, Europa-Straßen verlegt, Museen und Büchereien in neue Stadtviertel verschoben. Neubauten entstehen in beachtlicher Eyecatcher-Architektur – wie der 117 Meter hohe Oslo Plaza Tower, Norwegens höchstes Gebäude und bis 2011 auch Nordeuropas höchstes Hotel. Der von König Olav V. 1990 eingeweihte Hotelturm erhebt sich mit seinen 37 Etagen und dem markanten Pultdach hoch über Oslo. An der Raster-Spiegelglas-Fassade fährt ein gläserner Aufzug bis zur Spitze des Radisson-Blu-Hotels hinauf. Vom 34th, dem höchsten Restaurant Norwegens, hat man einen Prachtblick über die City bis weit hinein in den Fjord, der von hier mehr als 118 Kilometer bis in den Skagerrak reicht. Erstes dünnes Eis überzieht die Oberfläche, der Fjord friert gelegentlich auch zu. Auf dem Dach der Neuen Oper flanieren Besucher und fotografieren die Kreuzfahrtschiffe vor Anker und die erst vor wenigen Monaten eröffnete Bibliothek Deichman, deren Haupt sich in Richtung Fjord streckt. Daneben neigt sich auch das Haupt des neuen Munch-Museums dem Fjord zu. Es soll im Frühjahr 2021 als das mit 28.000 Objekten größte monografische Museum der Welt eröffnen und den Stadtteil Bjørvika zum kulturellen Zentrum Norwegens machen.
Blickt man vom Oslo Plaza nach Westen, erstreckt sich da das historische Oslo mit Dom, Nationaltheater und Parlament, fußgängerfreundlich aufgereiht entlang der Karl Johans Gate, die bis zum Königlichen Schloss reicht. Linkerhand liegen das Rathaus und die historische Festung Akershus. Die Stadt, schon stolze 1020 Jahre alt, wurde von König Hakon˚ V. 1299 zur Hauptstadt Norwegens ausgerufen.
Mit dem gläsernen Aufzug geht es hinab. Vom Hotel führt eine Fußgängerbrücke zur Sentralstasjon. Auf dem Platz davor läuft ein Tiger. Die Bronzestatue symbolisiert Oslos Zweitnamen „Tigerstaden“: Tiger-Stadt. Die Laufrichtung der fast fünf Meter großen Raubkatze weist den Weg ans nahe Wasser. Und hier öffnet sich die moderne Fjord-City mit einer nordischen, klaren Ästhetik, die Besucher magisch anzieht – im Mittelpunkt die Neue Oper, ein kühles Pastellbild wie aus einem modernen Eiskristallmärchen, wie der avantgardistische Gletscherpalast einer hippen, zeitgenössischen Schneekönigin. Aufs Dach der Oper aufsteigend weitet sich mit jedem Schritt das Nordende des Oslofjords, auf dem in der Wintersonne die funkelnde EismeerSkulptur treibt.
Oben steht man der neuen Skyline von Oslo gegenüber: die Bibliothek, mittig der Oslo Plaza Tower, dem sich rechts zwölf ungewöhnliche Tower anschließen, jeder eigens designt, doch alle lang und schmal: das Barcode-Project.
Dieses Bauvorhaben wurde und wird in Oslo viel kritisiert, wegen der verbauten Fläche, des fehlenden Grünraums und des verbarrikadierten Blicks aufs Meer. Und ja, war nicht die Offenheit zum Fjord der Kern des Masterplans für die Fjord-City?
Von Kongshavn im Südosten bis Frognerkilen im Nordwesten wird umgestaltet. Im einstigen Containerhafen Sørenga stehen nun statt Hafenkränen Wohnhäuser, es gibt Spielplätze, Parks, Kanäle zum Paddeln und ein Meerwasserschwimmbad. Die neue Waterfront setzt sich fort, von der Oper die Langkaia entlang, vorbei an im Fjord schwimmenden Saunahäuschen bis zum nomadischen Kunstprojekt „Salt“: hölzerne Pyramiden und Trockengestelle. Statt Fisch trocknen hier Saunatücher. Feuertonnen lodern. Das EventGelände beherbergt Großsaunas, Cafes´ und Kunst.
Horizont in Flammen
Die insgesamt knapp zehn Kilometer lange Pier verbindet Stadtviertel, integriert Plätze für Bewegung und Spiel, Rast und Begegnung. „Ziel ist, den Fjord zu den Menschen zu bringen“, erklärte Jenny Mäki, Creative Director bei White Arkitekter Oslo, das Vorhaben, den Fjord in die Stadt zu holen und ihn zu umranden mit neuer Architektur und zeitgenössischer Kunst, mit historischer Kultur und spannender Kulinarik. Dafür steht insbesondere das Viertel Aker Brygge mit seiner Restaurant- und Shopping-Meile direkt am Wasser. Hier, gleich hinter dem Nobel-Friedenszentrum, entsteht derzeit das größte Kunstmuseum Skandinaviens. 2021 wird es mit einer Fläche von fast 55.000 Quadratmetern eröffnet. In Aker Brygge faltet sich die Pier in Holzterrassen zum Wasser hinab. Darüber färbt sich der pastellblaue Winterhimmel schon am Nachmittag in flammendes Orange. An der modernen Aker Brygge Marina angekommen, steht der Horizont ganz in Flammen. Welch Naturschauspiel! Viele Menschen zieht es weiter zur Fußgängerbrücke, die nach Tjuvholmen führt. Hell erleuchtet sind die Galerien und Cafes,´ Boutiquen und Apartments – die neuen Waterfront-Häuser des Viertels wurden von mehr als 20 Architekten entworfen.
Und da, wo Tjuvholmen auf den Fjord trifft, steht das von Renzo Piano entworfene Astrup Fearnley Museum mit seiner WeltklasseKollektion moderner Kunst von Warhol bis Koons, Anselm Kiefer bis Damien Hirst. Doch den größten Zustrom hat ein anderer: Die Menschen strömen an die Spitze der Halbinsel bis ganz nach vorn, da wo die Pontons jetzt schon etwas vereist sind. Kameras klicken, Pärchen umarmen sich, alle lächeln verzaubert. Ein Wintermärchen. Der Oslofjord leuchtet orange, flammenrot und dunkelviolett.