14.671 Tage im Leben des John Lennon
Zum 40. Todestag. Am 8. Dezember 1980 wurde John Lennon ermordet. Damit endete ein Künstlerleben, das ganz im Goetheschen Sinn selbst ein Kunstwerk war: stürmisch, romantisch, idealistisch, tragisch. Man kann es nachhören.
Am 8. Dezember 1980 wurde John Lennon ermordet. Damit endete ein Künstlerleben, das ganz im Goetheschen Sinn selbst ein Kunstwerk war: stürmisch, romantisch, idealistisch, tragisch.
Mit 66 Jahren fängt das Leben erst an, sang Udo Jürgens 1977. Weniger dick trug John Lennon drei Jahre später auf, in einem kleinen, am Rand der Aufnahmen zum Album „Double Fantasy“entstandenen, aber nie finalisierten Song namens „Life Begins At 40“. Mit einer Zeile, bei der, spätestens, es einem kalt wird: „I’ve been dead for 39“(ergänze: years).
Dabei ist es ein harmloser flotter Country-Song, gedacht für den Ex-Kollegen Ringo Starr, der wie John Lennon im Jahr 1980 seinen 40. Geburtstag hatte. Er ist heuer 80 geworden, gesund und munter, hat am 7. Juli wenigstens im Netz mit all seinen Freunden eine „Big Birthday Show“gefeiert.
John Lennon ist seit 40 Jahren tot, erschossen am 6. Dezember 1980 von Mark David Chapman, einem Verrückten, der bald Beatles-Fan, bald wiedergeborener Christ, bald Beatles-Hasser war. In seinem Hotelzimmer fand die Polizei eine Bibel, in der die Überschrift „Gospel According to John“(Johannesevangelium) um das Wort Lennon erweitert war. Zehn Jahre davor, 1970, hatte John Lennon im schmerzvollen Song „God“erklärt: „God is a concept by which we measure our pain“– und sich mit heiserer Kehle von jedem Glauben distanziert, außer dem an sich selbst und Yoko Ono. Explizit auch von dem an die Beatles.
Eine Stimme ohne Distanz
1940 geboren, von 1960 bis 1970 bei den Beatles, 1980 gestorben. Lauter runde Jahreszahlen für ein Leben, das man nur mit sehr viel Distanz rund nennen kann. Doch diese Stimme, egal ob sie „Help!“ruft oder „Yes, I’m lonely, wanna die“, „Mama don’t go“oder „Daddy come home“, ob sie „All you need is love“propagiert, „Mind games“oder „Power to the people“, ob sie eine Prudence anspricht, eine Julia oder eine Yoko, diese Stimme kennt keine Distanz. Lennon selbst konnte sie nicht leiden. „Er hatte eine tief sitzende Abneigung gegen seine Stimme“, erzählte Produzent George Martin einmal: „Immer wieder hat er zu mir gesagt: ,Mach was mit meiner Stimme!‘ Du weißt schon – leg was drüber. Erstick sie mit Ketchup oder sonstwas. Mach sie anders.“
Mit diesem Wunsch, diesfalls nicht an Martin gerichtet, hatte John Lennon sich auch bei seinem letzten Album, einem Songzyklus mit seiner Frau, durchgesetzt: Auf seinen Tracks der Originalversion von „Double Fantasy“klingt seine Stimme kraftlos, im Studio verschüttet von zu vielen Instrumenten. Erst 30 Jahre nach seinem Tod, 2010, rang sich Yoko Ono durch, eine „Stripped-down“-Version zu veröffentlichen. Wenn man sie hört, fällt die Trivialität von den Texten ab und weicht der Dringlichkeit, fast wie einst in der himmelsstürmerischen Frühphase der Beatles, als ein rasender John Lennon Sätze wie „I got a whole lotta things to tell her“brüllte und gleich nachsetzte, für alle, die’s noch nicht kapiert hatten: „I’ve got no time for trivialities!“
Der König in der Küche
Keine Zeit für Trivialitäten. Der Slogan hatte 1980, in Lennons letztem Jahr, eine andere Bedeutung als in seiner halbwilden Zeit. Nach der Geburt seines zweiten Sohnes Sean – genau an seinem eigenen 35. Geburtstag, noch eine halbwegs runde Zahl! – hatte er sich eine neue Rolle erfunden, die er mit feiner Selbstironie (und Zeilen des Beatles-Songs „Cry Baby Cry“variierend) auf „Double Fantasy“beschrieb: Der König ist in der Küche, er macht Brot und Honig, während die Königin im Kontor das Geld zählt. Gerade noch unglücklicher Macho beim eineinhalbjährigen Eheurlaub in Los Angeles, jetzt glücklicher Hausmann und Vater in New York: Die letzte Kehre in diesem kurvenreichen Leben.
Das immer schon auch Stoff für Hobbypsychologie war. In ihrer unlängst erschienenen Biografie „John Lennon – Genie und Rebell“betätigt die Klatschjournalistin LesleyAnn Jones sich ausführlich in diesem Genre. Textbeispiel, betreffs den erwähnten Eheurlaub: „Er brauchte Yoko. Der verlorene Sohn brauchte Mutter. Beruhige dich, Johnny, warte.“Andererseits: Sind solche Peinlichkeiten nicht schon wieder passend für einen Mann, der seine Frau Mutter nannte und sich einer Urschreitherapie bei Arthur Janov unterzog? Immerhin mit dem Ergebnis, dass er 1970 im Song „Mother“, eingeleitet von einer sinistren Glocke, aus ganzer Seele seinen Eltern nachschreien konnte. Und nein, das war und ist nicht peinlich. Schamlos schon: Die Rock-’n’-Roll-Zuspitzung der Goethe-Idee, dass das Leben des Künstlers selbst sein größtes Kunstwerk sei. (Und damit, auf die Beatles umgelegt, „A Day in the Life“der Song schlechthin.)
Von Raufbold zum säkularen Heiligen
So ein Leben. Vom Liverpooler Raufbold zum säkularen Heiligen (und Dichter des ersten atheistischen Kirchenlieds), dazwischen ein Walross auf den Erdbeerfeldern mit Diamanten, und mindestens eine Generation lebte mit. „Instant Karma’s gonna get you“, sang Lennon und jubelte: „And we all shine on!“Das mag heute seltsam klingen; das Konzept vom intelligenten Rockstar, der seinen Fans ein Leben vorlebt – und sie damit paradoxerweise mündig macht – ist längst passe.´ Es hat den großen Pop geprägt, besonders in England, wo die Karrieren von John Lennon, Ray Davies, Pete Townshend, Jarvis Cocker u. v. a. zeigten, dass die strikten Klassengrenzen brüchig werden können. Sie alle waren an der Kunsthochschule, bevor sie in die Hitparade kamen, und das ist kein Zufall. Und es machte sie nicht demütig gegenüber der Hochkultur: „Instant Karma“sei bedeutender als alle klassische Musik, die er je gehört habe, sagte John Lennon, mit demselben Selbstbewusstsein, mit dem er erklärt hatte, dass die Beatles „populärer als Jesus“seien.
Auch die Aufregung, die das 1966 in den USA hervorrief, kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Oder doch? Die Aufregung, die konzentrierte Euphorie, die die Beatles in die Welt brachten, jedenfalls kann man zumindest nachempfinden. Man höre, am Todestag John Lennons, ein paar seiner glühendsten Beatles-Songs, „When I Get Home“natürlich, auch „Tell Me Why“und „It Won’t Be Long“. „I’m A Loser“, um zu spüren, dass das Leben keine Hetz ist. Dann drei, vier seiner tief schwermütigen Lieder, „Don’t Let Me Down“auf jeden Fall, den „Yer Blues“, wenn man nicht gerade am Abstürzen ist. Schließlich, schon um Lennons letzten Idealen gerecht zu werden, die „Double Fantasy“. Vor allem „Beautiful Boy“: John Lennon als Vater, der seinen Sohn ins Bett bringt, der ihm und sich selbst verspricht, ein paar Monate vor seinem Tod: „Every day in every way, it’s getting better.“Es folgt der oft zitierte Satz: „Life is what happens to you while you’re busy making other plans.“Was für ein Leben.