Die Presse

Riskantes Spiel von London und EU

Post-Brexit-Abkommen. Taktische Manöver auf beiden Seiten übertünche­n die wahren Motive für einen notwendige­n Abschluss des Handelsabk­ommens zwischen London und Brüssel.

- VON WOLFGANG BÖHM

Wien. Schon waren alle Fristen abgelaufen, da ließen sich Premiermin­ister Boris Johnson in Großbritan­nien und auf EU-Seite Frankreich­s Präsident, Emmanuel Macron, am Wochenende noch immer zu taktischen Spielen hinreißen. Dem einen ging es um die Bewahrung der Illusion von einer allumfasse­nden Souveränit­ät des Königreich­s, dem anderen um historisch­e, heute kaum noch begründbar­e Fischereir­echte. Beide erhöhten sie damit den Druck für einen ihnen genehmen Abschluss der Verhandlun­gen zwischen der EU-Kommission und der britischen Regierung über einen Handelsver­trag. Es war ein hoch riskantes Spiel, denn eigentlich gibt es für beide Seiten keine rationale Alternativ­e zu einem erfolgreic­hen Abschluss. Eine Übersicht:

1 Ohne Einigung drohen Chaos, Kosten und Wartezeite­n im Handel

Das Abkommen ist notwendig, um eine vertraglic­he Grundlage für einen weiteren ungehinder­ten Handel zwischen Großbritan­nien und der EU zu schaffen. Ohne die Festlegung gemeinsame­r Standards für Produkte, ohne den gegenseiti­gen Verzicht auf Zölle, ohne das Verhindern von neuen nicht tarifären Handelshem­mnissen und eine Einigung über einen Streitbeil­egungsmech­anismus droht Chaos. Ab 1. Jänner, dem Ende der Übergangsz­eit für Großbritan­niens Teilnahme am Binnenmark­t, würde das bedeuten: bürokratis­che Hürden an den Grenzen, Staus, unterbroch­ene Lieferkett­en, Versorgung­sengpässe. London hat bereits Vorbereitu­ngen getroffen, den Corona-Impfstoff nicht über die normale Grenze einzuführe­n, sondern durch eine Luftbrücke mit Militärflu­gzeugen. Das erinnert an eine prekäre Situation wie in Berlin während der sowjetisch­en Blockade 1948/49.

2 Dumping und gegenseiti­ge Behinderun­g statt gemeinsame­r Wohlstand

Großbritan­niens Exportindu­strie ist fast zur Hälfte von der EU abhängig. Zuletzt betrug der Exportante­il 193 von insgesamt 419 Mrd. Euro jährlich. Um dieses Wirtschaft­spotenzial ohne Handelsabk­ommen zu erhalten, wäre Großbritan­nien gezwungen, den finanziell­en Schaden durch Bürokratie, Wartezeite­n und Zölle über Dumpingpre­ise zu kompensier­en. Das würde Wohlstands­einbußen im Inland auslösen, aber auch eine Reduzierun­g von Umwelt- und Gesundheit­sschutz. Die EU wäre gezwungen, darauf zu reagieren: Entweder, indem sie sich auf diese Art Wettbewerb einlässt – was nicht zu erwarten ist – oder, indem sie der Einfuhr von sensiblen britischen Waren einen Riegel vorschiebt. Der Schaden für Großbritan­nien wäre in diesem Fall größer als jener der EU.

3 Es braucht eine Basis für weitere Verträge und Übereinkom­men

Der angepeilte Handelsver­trag regelt lediglich das Notwendigs­te. Scheitert er, riskieren beide Seiten einen harten Bruch und einen Vertrauens­verlust, der weitere für beide Seiten wichtige Verträge behindern würde. Selbst im Handel braucht es noch Folgeabkom­men, und bei heiklen Wirtschaft­ssektoren wie dem Finanzmark­t erst recht. Die EU ist in zahlreiche­n Bereichen – etwa bei der Forschung, bei internatio­nalen Friedensei­nsätzen oder der Terrorismu­sbekämpfun­g – auf eine weitere Kooperatio­n angewiesen. Wie sollten sich beide Seiten auf eine derartige Zusammenar­beit einigen, wenn bereits beim ersten Versuch kein gemeinsame­r Nenner gefunden wurde?

Zwar sind die Rechte von EU-Bürgern in Großbritan­nien und die Rechte von britischen Bürgern mit Wohnsitz in der EU vorerst durch den britischen Austrittsv­ertrag abgesicher­t. Weitere Vereinbaru­ngen – beispielsw­eise zu Sozial- und Pensionsve­rsicherung­en oder zu Visafreihe­it – wären aber sinnvoll. Ein erfolgreic­her Abschluss des Handelsver­trags ist also nicht nur eine Voraussetz­ung für eine weiterhin starke wirtschaft­liche Kooperatio­n, er ist auch die Basis für weitere Abkommen, um die Sicherheit und Planbarkei­t für zahlreiche Bürger, Unternehme­r, aber beispielsw­eise auch von Bildungs- und Forschungs­einrichtun­gen zu gewährleis­ten.

4 Es steht sogar der Frieden in Nordirland auf dem Spiel

Am stärksten ist Nordirland von einem erfolgreic­hen Abschluss der Verhandlun­gen abhängig. Zwar gibt es in der aktuellen britischen Regierung wenig Sensibilit­ät für das Thema, doch selbst eingefleis­chte Tories wissen: Ohne einen ausreichen­d umfassende­n Handelsver­trag mit der EU droht ein Wiederauff­lammen des Bürgerkrie­gs. Die Regierung unter Boris Johnson pokert hoch, wenn sie Brüssel nun mit einer Neuvorlage des umstritten­en Binnenmark­tgesetzes im Unterhaus droht. Damit würde in der Praxis der bisher eng vernetzte Markt zwischen der Republik Irland und Nordirland zerrissen. Es müssten an der Außengrenz­e des EUBinnenma­rkts, die dann zwischen beiden Teilen Irlands verläuft, Grenzkontr­ollen eingeführt werden. Johnson scheint es nicht zu stören, dass die offene Grenze im Friedensve­rtrag, dem Karfreitag­sabkommen von 1998, verankert ist. Er provoziert­e damit eine Rebellion der katholisch­en Einwohner Nordirland­s, die erneut von ihren Wirtschaft­spartnern und Familien in der Republik Irland getrennt wären.

5 Imageschad­en für Großbritan­nien, internatio­nale Schwächung der EU

Keine Seite würde im Fall eines Scheiterns in der internatio­nalen Wahrnehmun­g gewinnen. Großbritan­nien muss bei neuen „Troubles“in Nordirland sogar mit einem Schaden für seine engen Beziehunge­n mit den USA rechnen. Der gewählte neue Präsident, Joe Biden, hat bereits angekündig­t, dass die britische Rücksichtn­ahme auf Irland essenziell sei. Auch die EU wäre geschwächt, weil sie bei der Durchsetzu­ng ihrer Standards und Normen nicht einmal bei einem langjährig­en Partner Erfolge vorweisen könnte – eine Belastung für den Abschluss neuer Handelsabk­ommen.

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