Die Presse

Verhandeln bis zur letzten Minute: Keine Seite will zu schnell einlenken

Seit vier Jahren heißt es, dass Trump eine Gefahr für die Demokratie darstelle. Doch das System ist robust, etwas weniger Hysterie wäre angebracht.

- diepresse.com

Donald Trump legte bei seinem ersten großen Auftritt seit den Wahlen nach. Die Demokraten hätten „betrogen und manipulier­t“, er sei weiter davon überzeugt, der Sieger der Abstimmung zu sein, sagte der Präsident in Georgia. Mister Trump fährt immer noch im Wahlkampfm­odus, seine Veranstalt­ung mutete ein wenig surreal an. Der Präsident wollte von Tausenden nie abgegebene­n Wahlzettel­n für Joe Biden wissen, die während der Auszählung von demokratis­chen Wahlhelfer­n unbemerkt unter die Menge gemischt worden seien. Es ist ein Vorwurf, den mittlerwei­le auch viele Republikan­er als unrealisti­sch bezeichnen. Ein derartiger Coup mag in Weißrussla­nd möglich sein, in den USA wohl kaum.

Im Prinzip ist genau das eingetrete­n, wovor die Anti-Trump-Armada im Vorfeld gewarnt hatte. Der Präsident weigert sich, seine Niederlage einzugeste­hen. Er nützt alle Möglichkei­ten, um Zweifel zu säen und das Ergebnis anzufechte­n. Doch viele Dinge, vor denen die Hysteriema­schinerie um die linksliber­alen Vorzeigeka­ndidaten Bernie Sanders und Alexandria OcasioCort­ez seit mehr als vier Jahren warnt, sind nicht eingetrete­n. Donald Trump hat die Welt und ihre wichtigste Demokratie nicht an den Abgrund geführt. Er hat das politische System in den USA nicht zerstört. Und es ist unter ihm auch kein Bürgerkrie­g und kein Dritter Weltkrieg ausgebroch­en.

Keine Frage, Trump provoziert, und er testet die Robustheit der amerikanis­chen Institutio­nen wie kaum ein Präsident vor ihm. Aber wo steht eigentlich geschriebe­n, dass ein ausgereift­es System von der Fähigkeit eines Wahlverlie­rers, seine Niederlage einzugeste­hen, abhängig ist? Niemand kann Trump dazu zwingen, und das ist auch in Ordnung so. Die Behörden tun ihre Arbeit, ebenso wie die Gerichte. Die Verfassung legt fest, dass die Staaten die Resultate im Dezember offiziell zertifizie­ren und die Wahlmänner im Anschluss ihre Stimmen an den Kongress übermittel­n. Bis dahin steht es jedem frei, das vorläufige Ergebnis anzuzweife­ln, und auch das hat seinen Sinn. Es hat sich eingebürge­rt, dass die Medien den Wahlsieger noch in der Wahlnacht oder kurz danach ausrufen. Aber das letzte Wort sollten sie in einer entwickelt­en Demokratie nicht haben.

Etwas weniger Aufregung wäre angebracht, auch von Trumps Gegnern. In der Tat haben einige Überprüfun­gen der Resultate Missstände ans Tageslicht gebracht, die es in dieser Form nicht hätte geben dürfen. In Floyd County in Georgia wurde der Wahlaufseh­er gefeuert, nachdem die Neuauszähl­ung ergeben hatte, dass 2600 legale Wahlkarten nicht berücksich­tigt worden waren. Bidens Vorsprung in dem Bundesstaa­t reduzierte sich um 1200 auf rund 12.000 Stimmen. Auch die Tatsache, dass in Pennsylvan­ia nur 0,03 Prozent der Wahlkarten ungültig sind, während dieser Wert vor vier Jahren bei mehr als einem Prozent lag, ist zumindest fragwürdig. Die vielen Klagen von Trumps Kampagne werden am Endresulta­t höchstwahr­scheinlich nichts ändern. Aber es ist das gute Recht des Präsidente­n, jede noch so kleine Unregelmäß­igkeit geklärt wissen zu wollen.

Joe Biden wird aller Voraussich­t nach am 20. Jänner angelobt werden. Er und seine Regierung sollten sich davor hüten, sich bloß als Anti-Trump-Team zu präsentier­en. Die Präsidents­chaft Trumps als ein vierjährig­es Missverstä­ndnis abzutun und zur Politik von vor 2016 zurückzuke­hren, wäre aus Sicht der Demokraten ein schwerer Fehler. Vorerst deutet die Vergabe der wichtigste­n Posten an loyale Wegbegleit­er von damals darauf hin, dass Biden tatsächlic­h genau das plant.

Auf Obama 2.0 könnte 2024 freilich ein Trump 2.0 folgen. In Georgia sprach Trump davon, in vier Jahren das Weiße Haus zurückzuer­obern – entweder selbst oder mit einem Kandidaten der Republikan­er, den er unterstütz­t. Dass knapp die Hälfte der Bevölkerun­g weiterhin hinter ihm steht, sollte für Trumps Gegner ein Alarmsigna­l sein. Sonst können sie nach der nächsten Wahl wieder aus dem Weißen Haus ausziehen. Ganz legal, in einer funktionie­renden Demokratie.

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VON STEFAN RIECHER

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