Die entscheidenden Stunden im Poker um den Post-Brexit-Pakt
Verhandlungen. Trotz der drängenden Zeit wollten vorerst weder Brüssel noch London in den Streitpunkten einlenken.
London. Ob es sich um substanzielle Meinungsunterschiede oder politisches Drama handelt: Für eine Einigung zwischen der EU und Großbritannien über die künftigen Handelsbeziehungen nach Ablauf der Brexit-Übergangsfrist zu Jahresende blieben nur mehr wenige Stunden Zeit. Der britische Umweltminister, George Eustice, erklärte am Sonntag, seine Regierung werde „in den kommenden Tagen Position beziehen“. Weiter umstritten bleiben die künftigen Fischereirechte, die Wettbewerbsregeln und ein Streitbeilegungsmechanismus.
Die Verhandlungen gingen am Sonntagnachmittag in Brüssel weiter, nachdem am Samstag auch ein Telefonat zwischen EUKommissionspräsident Ursula von der Leyen und dem britischen Premierminister, Boris Johnson, nur die Bestätigung gebracht hatte, dass weiter keine Einigung besteht: „Wir stellen bedeutende Differenzen in entscheidenden Fragen fest“, hieß es in einer wortgleichen
Erklärung beider Seiten. Die Verhandlungen sollten dennoch fortgesetzt werden. Aus der britischen Regierung hieß es danach düster: „Das ist der letzte Wurf des Würfels.“
Ob die Unterhändler Michel Barnier für die EU und David Frost für Großbritannien unter derartigen Vorzeichen einen Durchbruch schaffen würden, lag letztlich in der Hand ihrer politischen Chefs. „Ich glaube, ein Deal ist zum Greifen nah“, zitierte die „Sunday Times“einen EU-Diplomaten. „Aber dafür muss man ein wenig Drama inszenieren, damit man das Abkommen auch verkaufen kann.“Andere waren weniger zuversichtlich: „Die Lage ist ernst. Es geht nicht nur um technische Details. Die Frage ist eine politische“, sagte ein EU-Vertreter.
Während der irische Außenminister, Simon Coveney, betonte, „97 bis 98 Prozent“eines Abkommens seien unterschriftsfertig, bleiben die seit Monaten ungelösten Konfliktpunkte unverändert Stolpersteine. Beim Fischfang will Großbritannien die Anerkennung seiner Hoheit über seine Binnengewässer und nach einer dreijährigen Frist die Aushandlung von jährlichen Fangquoten. Die EU will einen zehnjährigen Übergang und den Briten danach 18 Prozent der Fische zugestehen.
Obwohl wirtschaftlich bedeutungslos, hat die Frage hohe politische Symbolkraft: Frankreichs Premierminister, Jean Castex, besuchte zuletzt Boulogne-sur-Mer, den größten Fischereihafen des Landes, Europaminister Clement Beaune drohte mit einem Veto gegen ein Abkommen, und Präsident Emmanuel Macron intervenierte persönlich, um ein befürchtetes „Einknicken“der EUVerhandler zu verhindern. Küstenstaaten wie die Niederlande, Belgien oder Dänemark sollen die Linie Frankreichs teilen. Deutschland hingegen drängt auf eine Einigung.
Bei den künftigen Wettbewerbsregeln will London freie Hand bei staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft. Die EU hingegen verlangt als Preis für den Fortbestand des freien Zugangs zum Binnenmarkt eine „weitgehende“Anpassung. In vielen Hauptstädten fürchtet man, dass sich Großbritannien mit Lohndumping, Niedrigsteuer und Subventionen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen versucht. Umgekehrt heißt es in London: „Dass wir allein unsere Gesetze bestimmen, ist der ganze Sinn des Brexit.“
Ebenso umstritten ist die Frage der Schlichtung von Streitigkeiten. Großbritannien will eine Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs nicht anerkennen. Umgekehrt legte Brüssel in der Vorwoche einen Entwurf vor, demzufolge allein die EU-Kommission über Abweichungen entscheiden und Maßnahmen verhängen darf, etwa durch einseitige Einführung von Tarifen. Das lehnt London ab. Ob es dennoch zu einer Einigung kommt, sollten die nächsten Stunden zeigen. Barnier sollte bereits am Montagvormittag den EU-Botschaftern erneut berichten. Johnson und von der Leyen wollten am Abend ein weiteres Mal über den Stand der Dinge sprechen. Vom Ausgang dieses Gesprächs werde es wohl auch abhängen, ob die britische Regierung die endgültige Verabschiedung des britischen Binnenmarktgesetzes schon Montagnacht forcieren werde, hieß es. Das umstrittene Gesetz, von dem London selbst einräumt, dass es gegen das Völkerrecht verstößt, steht nach Ablehnung durch das House of Lords erneut auf der Tagesordnung des Unterhauses. Hier hat die Regierung Johnson eine klare Mehrheit.
Für die EU ist das Gesetz ebenso eine Provokation wie das Finanzgesetz, das schon am Mittwoch zur Abstimmung vorgelegt werden soll und mit der Verhängung britischer Tarife über Nordirland ebenfalls gegen das EU-Austrittsabkommen verstößt. Damit wurde Vertrauen zerstört, das jetzt in den Verhandlungen fehlt. Johnson verteidigt beide Gesetze dennoch als „Rückversicherung“für den Fall, dass es zu keinem Deal mit der EU kommt. Politisch hat er sich dafür schon abgesichert: „Die Unterstützung für den Premier ist bombensicher“, hieß es am Sonntag in Kabinettskreisen. „Selbst bisherige EU-Befürworter sagen jetzt, wir müssen das zu Ende bringen.“
Wir stellen bedeutende Differenzen in entscheidenden Fragen fest.
Erklärung der EU und Großbritanniens