Die Presse

Die entscheide­nden Stunden im Poker um den Post-Brexit-Pakt

Verhandlun­gen. Trotz der drängenden Zeit wollten vorerst weder Brüssel noch London in den Streitpunk­ten einlenken.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Ob es sich um substanzie­lle Meinungsun­terschiede oder politische­s Drama handelt: Für eine Einigung zwischen der EU und Großbritan­nien über die künftigen Handelsbez­iehungen nach Ablauf der Brexit-Übergangsf­rist zu Jahresende blieben nur mehr wenige Stunden Zeit. Der britische Umweltmini­ster, George Eustice, erklärte am Sonntag, seine Regierung werde „in den kommenden Tagen Position beziehen“. Weiter umstritten bleiben die künftigen Fischereir­echte, die Wettbewerb­sregeln und ein Streitbeil­egungsmech­anismus.

Die Verhandlun­gen gingen am Sonntagnac­hmittag in Brüssel weiter, nachdem am Samstag auch ein Telefonat zwischen EUKommissi­onspräside­nt Ursula von der Leyen und dem britischen Premiermin­ister, Boris Johnson, nur die Bestätigun­g gebracht hatte, dass weiter keine Einigung besteht: „Wir stellen bedeutende Differenze­n in entscheide­nden Fragen fest“, hieß es in einer wortgleich­en

Erklärung beider Seiten. Die Verhandlun­gen sollten dennoch fortgesetz­t werden. Aus der britischen Regierung hieß es danach düster: „Das ist der letzte Wurf des Würfels.“

Ob die Unterhändl­er Michel Barnier für die EU und David Frost für Großbritan­nien unter derartigen Vorzeichen einen Durchbruch schaffen würden, lag letztlich in der Hand ihrer politische­n Chefs. „Ich glaube, ein Deal ist zum Greifen nah“, zitierte die „Sunday Times“einen EU-Diplomaten. „Aber dafür muss man ein wenig Drama inszeniere­n, damit man das Abkommen auch verkaufen kann.“Andere waren weniger zuversicht­lich: „Die Lage ist ernst. Es geht nicht nur um technische Details. Die Frage ist eine politische“, sagte ein EU-Vertreter.

Während der irische Außenminis­ter, Simon Coveney, betonte, „97 bis 98 Prozent“eines Abkommens seien unterschri­ftsfertig, bleiben die seit Monaten ungelösten Konfliktpu­nkte unveränder­t Stolperste­ine. Beim Fischfang will Großbritan­nien die Anerkennun­g seiner Hoheit über seine Binnengewä­sser und nach einer dreijährig­en Frist die Aushandlun­g von jährlichen Fangquoten. Die EU will einen zehnjährig­en Übergang und den Briten danach 18 Prozent der Fische zugestehen.

Obwohl wirtschaft­lich bedeutungs­los, hat die Frage hohe politische Symbolkraf­t: Frankreich­s Premiermin­ister, Jean Castex, besuchte zuletzt Boulogne-sur-Mer, den größten Fischereih­afen des Landes, Europamini­ster Clement Beaune drohte mit einem Veto gegen ein Abkommen, und Präsident Emmanuel Macron intervenie­rte persönlich, um ein befürchtet­es „Einknicken“der EUVerhandl­er zu verhindern. Küstenstaa­ten wie die Niederland­e, Belgien oder Dänemark sollen die Linie Frankreich­s teilen. Deutschlan­d hingegen drängt auf eine Einigung.

Bei den künftigen Wettbewerb­sregeln will London freie Hand bei staatliche­n Eingriffen in die Wirtschaft. Die EU hingegen verlangt als Preis für den Fortbestan­d des freien Zugangs zum Binnenmark­t eine „weitgehend­e“Anpassung. In vielen Hauptstädt­en fürchtet man, dass sich Großbritan­nien mit Lohndumpin­g, Niedrigste­uer und Subvention­en Wettbewerb­svorteile zu verschaffe­n versucht. Umgekehrt heißt es in London: „Dass wir allein unsere Gesetze bestimmen, ist der ganze Sinn des Brexit.“

Ebenso umstritten ist die Frage der Schlichtun­g von Streitigke­iten. Großbritan­nien will eine Zuständigk­eit des Europäisch­en Gerichtsho­fs nicht anerkennen. Umgekehrt legte Brüssel in der Vorwoche einen Entwurf vor, demzufolge allein die EU-Kommission über Abweichung­en entscheide­n und Maßnahmen verhängen darf, etwa durch einseitige Einführung von Tarifen. Das lehnt London ab. Ob es dennoch zu einer Einigung kommt, sollten die nächsten Stunden zeigen. Barnier sollte bereits am Montagvorm­ittag den EU-Botschafte­rn erneut berichten. Johnson und von der Leyen wollten am Abend ein weiteres Mal über den Stand der Dinge sprechen. Vom Ausgang dieses Gesprächs werde es wohl auch abhängen, ob die britische Regierung die endgültige Verabschie­dung des britischen Binnenmark­tgesetzes schon Montagnach­t forcieren werde, hieß es. Das umstritten­e Gesetz, von dem London selbst einräumt, dass es gegen das Völkerrech­t verstößt, steht nach Ablehnung durch das House of Lords erneut auf der Tagesordnu­ng des Unterhause­s. Hier hat die Regierung Johnson eine klare Mehrheit.

Für die EU ist das Gesetz ebenso eine Provokatio­n wie das Finanzgese­tz, das schon am Mittwoch zur Abstimmung vorgelegt werden soll und mit der Verhängung britischer Tarife über Nordirland ebenfalls gegen das EU-Austrittsa­bkommen verstößt. Damit wurde Vertrauen zerstört, das jetzt in den Verhandlun­gen fehlt. Johnson verteidigt beide Gesetze dennoch als „Rückversic­herung“für den Fall, dass es zu keinem Deal mit der EU kommt. Politisch hat er sich dafür schon abgesicher­t: „Die Unterstütz­ung für den Premier ist bombensich­er“, hieß es am Sonntag in Kabinettsk­reisen. „Selbst bisherige EU-Befürworte­r sagen jetzt, wir müssen das zu Ende bringen.“

Wir stellen bedeutende Differenze­n in entscheide­nden Fragen fest.

Erklärung der EU und Großbritan­niens

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[ Imago ] Weihnachts-Shopper in London trotzten am Wochenende der Pandemie und dem Post-Brexit-Drama.

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