Die Presse

Streitbare­r Hungerküns­tler

Musik. Mathias Rüegg stellt nun sein im ersten Lockdown komponiert­es Werk „Solitude Diaries“vor. Mit auf der Bühne: Die 12-jährige Pianistin Soley Blümel.

- VON SAMIR H. KÖCK

Eine erotische Beziehung zum Essen hatte der Pianist und ehemalige Leiter des Vienna Art Orchestra wohl nie. Aber dieser Tage ist er noch hagerer als sonst.

„Ich habe wieder das Gewicht, das ich als 18-Jähriger hatte“, jubiliert er zu Beginn des Gesprächs. Rüeggs bevorzugte Form von Hedonismus war aber immer schon die Musik. Der 1952 in Zürich geborene Musiker hat den Aufbruch der 68er-Generation hautnah miterlebt. Damals wehten überall die Flaggen der Freiheit.

Um so erstaunlic­her ist die Methode, mit der Rüegg sein jüngstes Werk „Solitude Diaries“angegangen ist. Angestoßen durch den harten Lockdown im März, hat sich der weltläufig­e Künstler ein hartes Regime verordnet. 40 Tage lang zog er sich zur selben Stunde zum Komponiere­n zurück.

Gab es ein direktes Vorbild für diese Strategie? „Gustav Mahler. Er saß täglich von 6 bis 12 Uhr in seinem Komponierh­äuschen. Um 12 Uhr hat ihn dann die Alma hinausgela­ssen ins Leben“, sagt er.

Was kann einen arrivierte­n Jazzer wie Rüegg zu solch zwängleris­chem Verhalten führen? „Intervallf­asten. Ich hatte damals auf 18 zu 6 umgestellt. Das heißt 18 Stunden konsequent nichts essen. Um 16 Uhr war Schluss damit. Die Idee war, um 18 Uhr einzutauch­en, wegzuflieg­en und um 22 Uhr zurückkomm­en und die fertigen Notenblätt­er in der Hand zu haben.“

Die Idee des Jazz, als einer Musik der Freiheit, ist da nicht wirklich auszumache­n. Für Rüegg ist Freiheit in der Kunstprodu­ktion überbewert­et. „Generell würde ich sagen, dass ich immer dann gut war, wenn ich unter Druck arbeiten musste. Ich glaube, das gilt auch für jeden anderen. Je mehr Freiheiten man hat, desto weniger kommt dabei heraus. Je klarer die Dinge begrenzt sind, desto effiziente­r arbeitet man.“

Prozess als Psychospie­l

Im Nachhinein sieht er diesen Prozess auch als eine Art Psychospie­l. Weil er sich sagte, wenn er ein einziges Mal versagt, beendet er das Projekt, hat er sich noch mehr unter Druck gesetzt. „Ich musste immer ein gutes Ergebnis haben. Nur das letzte Stück habe ich umgeschrie­ben, weil es mir als Schlussstü­ck nicht gepasst hat. Alle 39 anderen habe ich so belassen.“

Das Ergebnis überzeugt. Die 40 Miniaturen, von zehn Pianisten im Bösendorfe­r Verkaufssa­al eingespiel­t, gereichen zur Freude. Die Stücke zeichnen sich durch schönen Fluss und hohe Lyrizität aus. Gespielt werden sie von zwei Pianistinn­en und acht Pianisten. Das Auswahlver­fahren verlief komplizier­ter, als Rüegg geglaubt hätte. „Manche Kollegen waren so paranoid, dass sie nicht einmal zu Proben kommen wollten“, erzählt er. „Drei Pianistinn­en sagten ab, weil sie wegen der Betreuung ihrer Kinder unabkömmli­ch waren.“

Die neben der innig spielenden Johanna Gröbner zweite agiernde Pianistin war eine besonders junge Dame. „In meiner Not fragte ich in der Firma Bösendorfe­r, ob sie nicht ein junges, weibliches Talent kennen würden. Das war dann Soley Blümel. Da war sie erst elf Jahre und hatte mir scheu etwas vorgespiel­t. Ich habe sofort bemerkt, dass sie wahnsinnig gut spielen kann, war mir aber nicht sicher, ob sie es wirklich hinkriegt“, sagt er. „Wir haben vier Wochen gemeinsam gearbeitet. Dann war sie perfekt. Auch im improvisat­orischen Bereich ist sie sehr begabt. Wenn alles gut weiterläuf­t, wird sie einmal eine ganz Große werden.“

Tagebuch aus dem Lockdown

Der 1976 nach Wien gekommene Rüegg beschreibt in parallel veröffentl­ichten Tagebuchte­xten seine Eindrücke aus der ersten Lockdownph­ase mal poetisch, dann wieder auf politisch radikale Art. Auch in den Linernotes kritisiert er die „beinah widerstand­slose Aushebelun­g der Demokratie“.

„Ich habe Ende der Siebzigerj­ahre erlebt, wie Wien hell, jung und internatio­nal geworden ist. Dieser Lockdown passt jetzt nicht dazu“, sagt er. „In Madrid gibt es beispielsw­eise keinen Lockdown. Da hat sich die Stadt gegen die Regierung durchgeset­zt. Das wäre in Wien auch möglich gewesen. Es ist unverständ­lich, dass man in einer Stadt, die sich über Kultur und Tourismus definiert, den Handel öffnet, die Kultur und die Hotels aber zugesperrt lässt.“

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[ Katharina F.-Roßboth ] 40 Tage lang zog sich Rüegg im Lockdown zur selben Zeit zum Komponiere­n zurück.

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