Die Presse

Ballett – ganz ohne Applaus

Staatsoper. Martin Schläpfer holt in „4“das gesamte Ensemble auf die Bühne und zeigt dabei die Qualitäten jedes einzelnen. Online und im TV.

- VON ISABELLA WALLNÖFER

Nein, man will sich nicht daran gewöhnen, Theatererl­ebnisse nur im Streaming zu erleben. Es fehlt zu viel. Die Geräusche. Der Geruch. Die Energie, die nicht nur von der Bühne, sondern auch aus dem Publikum strömt. Der Atem der Tänzer, den man mehr ahnt als hört. Das leise Schaben und Schlagen der Spitzensch­uhe, das einem die Lautlosigk­eit dieser Kunst erst recht vor Augen führt. Und vor allem: Der Applaus, wenn sich die Eleven und Etoiles mit ausladende­n Gesten vor dem Publikum verneigen.

Diesmal blieb es still nach Hans van Manens „Live“und Martin Schläpfers Uraufführu­ng „4“, denn die Ränge der Wiener Staatsoper waren leer. Die Premiere fand auf Arte Concert statt – samt kurzem Ausfall des Streams kurz vor dem Finale. Ein denkwürdig­er Ballettabe­nd war es auch aus anderen Gründen. Den Applaus hätten sich die Akteure jedenfalls verdient. Olga Esina etwa, die die rare Gelegenhei­t hat, Hans van Manens ikonisches Videoballe­tt „Live“zur Musik von Franz Liszt (am Klavier: Shino Takizawa) zu interpreti­eren, das der Meister bisher keiner anderen Compagnie als seiner eigenen anvertraut hat. Nun ist das intime Stück in Wien angekommen.

Eine Kamera verfolgt die Tänzerin (die sich später im Foyer mit Marcos Menha zum Pas de deux trifft, bevor sie ins nächtliche Wien hinaus schreitet). Im Close-up werden ihre Bewegungen eingefange­n, ihre Emotionen, Details ihres Körpers wie eine Hand, die sich zum Mudra formt – und auf eine große Leinwand projiziert, vor der die Ballerina winzig wirkt. Es ist ein Spiel aus Distanz und Nähe, das van Manen bereits 1979 kreiert hat – und das in Zeiten der durch die Pandemie aufgezwung­enen Distanz mit neuer Bedeutung aufgeladen wird: Das Videoballe­tt, das die Perspektiv­en auf der Bühne verzerrt, läuft heute nur als Video bzw. im Fernsehen.

Opulenz in Tanz und Musik

Zweiter Teil des Abends ist eine Uraufführu­ng von Ballettdir­ektor Martin Schläpfer, der mit „4“sein erstes Stück für das Staatsball­ett kreiert hat. Es ist ein opulenter Kontrapunk­t zu „Live“, denn es tanzt das gesamte Ensemble der Volks- und Staatsoper. Luxuriös auch die Musik: Das Staatsoper­norchester spielt unter Axel Kober Mahlers Symphonie Nr. 4 in G-Dur (Sopran: Slavka´ Zame´cnˇ´ıkova).´ In einer Szene stehen über hundert Tänzerinne­n und Tänzer gemeinsam auf der Bühne. Es wirkt wie eine trotzige Geste gegen Corona.

Schläpfer hält die Tänzerinne­n und Tänzer im ständigen Fluss. Aus Gruppen schälen sich Paare oder Einzelne zu kurzen Pas de deux und Soli, während schon die nächsten auf die Bühne strömen – es ist ein Kommen und Gehen. Dabei wirken alle auf magische Weise miteinande­r verbunden. Die Choreograf­ie hat moderne und neoklassis­che Elemente und folgt gefühlvoll Mahlers wechselnde­n Stimmungsb­ildern.

Die Tänze sind maßgeschne­idert. Schläpfer zeigt die Compagnie in nie dagewesene­r Weise: Nicht nur als Einheit (als die sie schon immer funktionie­rt hat), sondern als einen Organismus aus den unterschie­dlichsten Persönlich­keiten. Beispielha­ft das ungleiche Paar Yuko Kato und Rebecca Horner: Sie schreiten als rätselhaft­e Frauen über die Bühne, vollführen magische Rituale: Stark und geheimnisv­oll. Die wunderschö­nen Kostüme von Catherine Voeffray unterstrei­chen die Charaktere.

Die Umstände waren widrig, das Stück ist versöhnlic­h. Es rückt die Compagnie in den Mittelpunk­t und dürfte auch jene besänftige­n, die Vorbehalte gegen einen zeitgenöss­ischen Choreograf­en als Ballettdir­ektor hatten. Ein gelungener Einstand, der am 8. 12. um 9.05 Uhr (leider ohne „Live“) in der „Matinee“auf ORF 2 zu sehen ist.

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[ AshleyTayl­or ] Martin Schläpfers „4“kam vor leeren Rängen zur Uraufführu­ng. Die Compagnie glänzte durch viele starke Charaktere.

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