Ballett – ganz ohne Applaus
Staatsoper. Martin Schläpfer holt in „4“das gesamte Ensemble auf die Bühne und zeigt dabei die Qualitäten jedes einzelnen. Online und im TV.
Nein, man will sich nicht daran gewöhnen, Theatererlebnisse nur im Streaming zu erleben. Es fehlt zu viel. Die Geräusche. Der Geruch. Die Energie, die nicht nur von der Bühne, sondern auch aus dem Publikum strömt. Der Atem der Tänzer, den man mehr ahnt als hört. Das leise Schaben und Schlagen der Spitzenschuhe, das einem die Lautlosigkeit dieser Kunst erst recht vor Augen führt. Und vor allem: Der Applaus, wenn sich die Eleven und Etoiles mit ausladenden Gesten vor dem Publikum verneigen.
Diesmal blieb es still nach Hans van Manens „Live“und Martin Schläpfers Uraufführung „4“, denn die Ränge der Wiener Staatsoper waren leer. Die Premiere fand auf Arte Concert statt – samt kurzem Ausfall des Streams kurz vor dem Finale. Ein denkwürdiger Ballettabend war es auch aus anderen Gründen. Den Applaus hätten sich die Akteure jedenfalls verdient. Olga Esina etwa, die die rare Gelegenheit hat, Hans van Manens ikonisches Videoballett „Live“zur Musik von Franz Liszt (am Klavier: Shino Takizawa) zu interpretieren, das der Meister bisher keiner anderen Compagnie als seiner eigenen anvertraut hat. Nun ist das intime Stück in Wien angekommen.
Eine Kamera verfolgt die Tänzerin (die sich später im Foyer mit Marcos Menha zum Pas de deux trifft, bevor sie ins nächtliche Wien hinaus schreitet). Im Close-up werden ihre Bewegungen eingefangen, ihre Emotionen, Details ihres Körpers wie eine Hand, die sich zum Mudra formt – und auf eine große Leinwand projiziert, vor der die Ballerina winzig wirkt. Es ist ein Spiel aus Distanz und Nähe, das van Manen bereits 1979 kreiert hat – und das in Zeiten der durch die Pandemie aufgezwungenen Distanz mit neuer Bedeutung aufgeladen wird: Das Videoballett, das die Perspektiven auf der Bühne verzerrt, läuft heute nur als Video bzw. im Fernsehen.
Opulenz in Tanz und Musik
Zweiter Teil des Abends ist eine Uraufführung von Ballettdirektor Martin Schläpfer, der mit „4“sein erstes Stück für das Staatsballett kreiert hat. Es ist ein opulenter Kontrapunkt zu „Live“, denn es tanzt das gesamte Ensemble der Volks- und Staatsoper. Luxuriös auch die Musik: Das Staatsopernorchester spielt unter Axel Kober Mahlers Symphonie Nr. 4 in G-Dur (Sopran: Slavka´ Zame´cnˇ´ıkova).´ In einer Szene stehen über hundert Tänzerinnen und Tänzer gemeinsam auf der Bühne. Es wirkt wie eine trotzige Geste gegen Corona.
Schläpfer hält die Tänzerinnen und Tänzer im ständigen Fluss. Aus Gruppen schälen sich Paare oder Einzelne zu kurzen Pas de deux und Soli, während schon die nächsten auf die Bühne strömen – es ist ein Kommen und Gehen. Dabei wirken alle auf magische Weise miteinander verbunden. Die Choreografie hat moderne und neoklassische Elemente und folgt gefühlvoll Mahlers wechselnden Stimmungsbildern.
Die Tänze sind maßgeschneidert. Schläpfer zeigt die Compagnie in nie dagewesener Weise: Nicht nur als Einheit (als die sie schon immer funktioniert hat), sondern als einen Organismus aus den unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Beispielhaft das ungleiche Paar Yuko Kato und Rebecca Horner: Sie schreiten als rätselhafte Frauen über die Bühne, vollführen magische Rituale: Stark und geheimnisvoll. Die wunderschönen Kostüme von Catherine Voeffray unterstreichen die Charaktere.
Die Umstände waren widrig, das Stück ist versöhnlich. Es rückt die Compagnie in den Mittelpunkt und dürfte auch jene besänftigen, die Vorbehalte gegen einen zeitgenössischen Choreografen als Ballettdirektor hatten. Ein gelungener Einstand, der am 8. 12. um 9.05 Uhr (leider ohne „Live“) in der „Matinee“auf ORF 2 zu sehen ist.