Solidarität und Frieden gibt es nur in Wohlstandsgesellschaften
Die Geschichte zeigt, dass in wirtschaftlich schlechten Zeiten sozialer Zusammenhalt und innerer Friede erodieren.
Denn der Mensch ist letztlich darauf programmiert, bei knappen Ressourcen vor allem das Überleben für sich und seine Sippe zu ermöglichen.
Vermehrt drängt sich in der aktuell schwierigen Lage ein historischer Vergleich auf, selbst wenn sich in der Geschichte bekanntlich nichts wiederholt. Aber die Mechanismen und die menschliche Natur ändern sich nicht substanziell: Der Börsenkrach des Jahres 1926 erschütterte bekanntlich die gesamte Weltwirtschaft. Seine Stoßwellen trafen in Europa eine vom Weltkrieg destabilisierte Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Es folgten Hyperinflation, Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und Massenarbeitslosigkeit.
Aktuell bewegt sich in Europa die Arbeitslosigkeit auf das extreme Niveau der damaligen Weltwirtschaftskrise zu: Am Höhepunkt der ersten Krise
1926 waren zum Beispiel in
Wien etwa zehn Prozent der Erwerbstätigen ohne Arbeit, am zweiten Höhepunkt 1936 lag diese Quote gar bei 22 Prozent der Erwerbstätigen. Heute, im November 2020, liegt sie bei etwa 14 Prozent, also höher als in der Akutphase der Großen Depression der 1920er-Jahre. Anfang 1933 verzeichnete man in Österreich fast 600.000 Arbeitslose – aktuell sind es 460.000 Arbeitslose, wobei mit einer weiteren Steigerung gerechnet werden muss. Besonders betroffen sind dabei vor allem jüngere Menschen, heute wie damals.
Die Folgen dieser Massenarbeitslosigkeit waren fatal und sind hinlänglich bekannt: Sie verstärkte die latenten politischen Spannungen, es kam zum Bürgerkrieg. Zeitgleich erhielten die Nationalsozialisten regen Zulauf, vor allem von jungen Männern ohne Arbeit und Perspektive. Es endete mit einer brutalen Diktatur und Krieg.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass die sozialen Netze damals nicht in dem Maße wie heute gespannt sind, birgt eine Wirtschaftskrise in dem Ausmaß, wie wir sie heute erleben, gewaltigen Sprengstoff. Soziale Spannungen, Entsolidarisierung und Spaltung der Gesellschaft sind die Folgen. Denn der Mensch ist letztlich darauf programmiert, bei knappen Ressourcen vor allem das Überleben für sich und seine Sippe zu ermöglichen. Klar erkennbar ist, dass Egoismus in Krisenzeiten zunimmt. Das sieht man auch jetzt: Die Sorge um die eigene Gesundheit steht bei den einen klar im Vordergrund, die Sorge um das wirtschaftliche Überleben bei den anderen. Jene, die sich keine Sorgen um Job und Einkommen machen müssen, genießen mitunter mehr Zeit zu Hause. Das Verständnis für den jeweils anderen schwindet zunehmend.
Es gibt trotzdem immer noch jene, die sich vor allem um andere sorgen: Die sich in der Freiwilligenarbeit, für Obdachlose engagieren; die ihre Mitarbeiter nicht kündigen, obwohl sie wirtschaftlich am Ende sind. Sie sind der Kitt der Gesellschaft. Dieser Kitt wird aber immer brüchiger, je angespannter die Lage wird.
Wenn es um das eigene Überleben oder auch nur um drohenden sozialen Abstieg geht, nimmt man wenig oder gar keine Rücksicht mehr auf andere. Fürsorge für andere, ob gesellschaftspolitisch als Wohlfahrtsstaat oder individuell, muss man sich leisten können. Fehlt die Grundlage dazu, helfen keine öffentlichen Appelle, auf den anderen „zu schauen“. Aus einer gesicherten wirtschaftlichen Position als Beamter, Politiker oder Pensionist betrachtet, mag das einfacher sein. Für Menschen mit akuten Existenzproblemen, die von Wohnungsverlust, finanziellem Ruin oder Jobverlust bedroht oder betroffen sind, klingt die Aufforderung zu Solidarität und Verzicht eher zynisch. Je stärker die Existenzängste und je heftiger die Verteilungskämpfe werden, desto weniger Solidarität gibt es. Das alles hat uns die Geschichte schon vielfach demonstriert.
Wohlstand ist nicht selbstverständlich, sondern Wohlstand für die breite Masse ist in der Geschichte eine Ausnahmeerscheinung. Dieser kann rasch verspielt werden. Freiheit und Sicherheit sind ebenso nicht selbstverständlich, sondern müssen erkämpft und erarbeitet werden. Dies alles gilt es in die Waagschale zu werfen, bevor man politische Entscheidungen trifft.