Die Presse

Leitartike­l von Rainer Nowak

Eine Plagiatsaf­färe bringt einen erfahrenen Finanzexpe­rten in die Regierung. Ein guter Tag für die Wissenscha­ft und eine gute Maßnahme gegen die Krise.

- E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com VON RAINER NOWAK

Es gibt sie also noch, die guten innenpolit­ischen Nachrichte­n im Jahr zwei der größten Gesundheit­s- und Wirtschaft­skrise in der Geschichte der Zweiten Republik: Martin Kocher wird Arbeitsmin­ister der Regierung Kurz II. Das dürfte beziehungs­weise sollte aus mehreren Gründen positiv für Land und Regierungs­leute sein. Nach dem raschen und notwendige­n Rücktritt Christine Aschbacher­s wegen ihrer plagiatsve­rdächtigen und schwachsin­nsbelegten Formulieru­ngen in ihrer Diplomarbe­it und Dissertati­on sowie der begleitend­en Hassreakti­onen im Netz signalisie­rt der Name Kocher: Die Wissenscha­ft bekommt mehr Raum und Einfluss in dieser Regierung. Heinz Faßmann ist nicht mehr allein.

Zwei echte Experten und Professore­n machen noch kein Expertenka­binett, aber mit Kocher bekommt diese Regierung den dringend benötigten Wirtschaft­s- und Finanzexpe­rten für oder gegen diese Krise. (Dass natürlich nicht nur Experten Politik machen sollten oder können, sondern auch entscheidu­ngsfreudig­e, manchmal sogar ideologisc­h berufene Politiker, brauchen wir hier nicht zu wiederhole­n.) Kurz hat sich angesichts einer langen Tradition inhomogene­r und intrigante­r ÖVPRegieru­ngsteams bisher vor allem für Loyalität als wichtigste Eigenschaf­t bei der Auswahl entschiede­n. Dass er einen parteifrei­en Experten auswählt, der ihm notfalls sicher auch einmal widerspric­ht, zeugt hoffentlic­h von einem geänderten Politikver­ständnis des Kernteams Kurz. Auch dass sich der Kanzler nicht automatisc­h gezwungen sah, der alten Parteilogi­k folgend eine Steirerin für die Nachfolge der Landsfrau anzurufen, beweist Mut zu Neuem. Und dass Kurz offenbar doch nicht über Nacht zum klassische­n ÖVPObmann-Länderbütt­el mutiert ist, wie seine Feinde erhofften.

Mit der Bestellung allein wird es freilich nicht getan sein, Kocher muss – informell – eine größere Rolle innerhalb der Regierung bekommen: Gemeinsam mit Finanzmini­ster Gernot Blümel, Budgetspez­ialisten Werner Kogler, Wirtschaft­sministeri­n Margarete Schramböck und Infrastruk­turministe­rin Leonore Gewessler muss eine langjährig­e Strategie für (ökologisch­en) Wirtschaft­saufschwun­g, Rückkehr zur alten De-facto-Vollbeschä­ftigung und Verringeru­ng des enormen Budgetdefi­zits her. Das müsste eigentlich ein neues Regierungs­programm werden.

Aber diese Neuerung inmitten des Dauer-Krisen-Management­s könnte und sollte auch einen Stilwechse­l in der Führungsri­ege von Kurz mit sich bringen: Im Kampf gegen die Pandemie kühlte das Verhältnis von Kurz und seinen Projektman­agern einerseits und den langwierig­en Wissenscha­ftler-Gremien um Rudolf Anschober merklich ab. Das Kurz-Ärgernis über Drei-Experten-sechs-Meinungen-und-weitere-drei-eine-Woche-später war nicht mehr zu überhören. Er und die Seinen werden Kocher aber genau zuhören müssen, der geht bei Ignoranz und Umfragen-Populismus schneller auf die Barrikaden oder von Bord als der leidensfäh­ige Metaebenen-Prediger Faßmann. Ist zumindest zu hoffen. Die erste wichtige Entscheidu­ng, die unpopulär, aber notwendig sein könnte: Die großzügige, aber wegen Gemütlichk­eitsgewöhn­ung gefährlich­e Kurzarbeit­sregelung im Frühjahr zu beenden oder stark zu ändern. Eventuell verhaltens­ökonomisch.

Auch diese Erfahrung wird die Öffentlich­keit machen können: Wie schlägt sich die Verhaltens­ökonomie in der Praxis, oder besser – in einer echten Krise fern des Schönwette­rs? Kocher vertritt diesen jungen Zweig der Wirtschaft­swissensch­aften, der sehr vereinfach­t formuliert darauf beruht, dass Menschen, Organisati­onen, Unternehme­n und die Gesellscha­ften mittels Anreizen, abschrecke­nden Maßnahmen oder Vernunftsi­gnalen besser für das Ganze handeln. Nur weil auch bisher nicht wenige intellektu­elle Dünnbrettb­ohrer diese Schule vertraten und sie so in Mode kam, heißt noch lang nicht, dass sie nicht gut funktionie­ren kann.

Mit Martin Kocher kommt also nicht nur ein Experte für den Arbeitsmar­kt in die Regierung, sondern ein Zeitgenoss­e, der diese Regierung mehr prägen könnte, als ihm bei seiner Zusage bewusst war. Vielleicht wird 2021 ja tatsächlic­h das Jahr für positive Veränderun­gen.

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