Irans Angst vor Impfstoff aus Westen
Pandemie. Teheran lehnt Präparate „fremder Mächte“ab. Exilopposition spricht von „Massaker“am eigenen Volk.
Teheran lehnt Präparate „fremder Mächte“ab. Die Exilopposition spricht von einem „Massaker“am eigenen Volk.
Istanbul/Teheran. Irans greiser Revolutionsführer Ali Khamenei ist schon häufiger mit kruden Verschwörungstheorien zur Coronapandemie aufgefallen. Im vergangenen Frühjahr äußerte er den Verdacht, das Virus sei von den USA entwickelt worden, um Iranern zu schaden. Jetzt ist der 81-Jährige, der mächtigste Mann der Islamischen Republik, einen folgenreichen Schritt weitergegangen: Er verbot den Import von Impfstoffen aus den USA und Großbritannien, weil diese angeblich die Iraner „kontaminieren“könnten.
Khameneis Anordnung folgend sollen bis zu eine Million Impfdosen zurückgewiesen werden, die von Exil-Iranern in den USA gespendet worden sind – und das, obwohl der Iran mit fast 1,3 Millionen Infizierten und mindestens 56.000 Corona-Toten das am schwersten betroffene Land im Nahen Osten ist. Die Exilopposition wirft Khamenei ein „Massaker“an der eigenen Bevölkerung vor.
Khamenei ortet böse Absichten
Khamenei sagte vor dem Wochenende im Fernsehen, er traue den Amerikanern und den Briten nicht. Wenn die USA wirklich einen wirksamen Impfstoff entwickelt hätten, dann würden sie ihn angesichts der hohen Coronazahlen im eigenen Land ja wohl selbst brauchen, sagte er: „Warum wollen sie ihn uns geben?“Twitter sperrte einen Kommentar des Revolutionsführers, in dem er den USA und Großbritannien böse Absichten mit den Impfstoffen von Biontech/Pfizer, Moderna und AstraZeneca unterstellte.
Da Khameneis Wort im Iran Gesetz ist, muss sich Präsident Hassan Rohani fügen, obwohl der Kampf seiner Regierung gegen die Pandemie nun erheblich erschwert wird. Teheran hat bei Covax, dem Verteil-System der Weltgesundheitsorganisation (WHO), knapp 17 Millionen Dosen Impfstoff bestellt; Covax kooperiert auch mit westlichen Pharmafirmen. Ob der Iran jetzt bei Covax nur nicht-westliche Präparate abrufen will, ist unklar. Der Iran werde nur sichere Impfstoffe kaufen, sagte Rohani nach Khameneis Rede. Der Iranische Rote Halbmond wies eine erste Lieferung von 150.000 Impfdosen von Biontech zurück, die iranischstämmige US-Bürger spenden wollten. Insgesamt sollten eine Million Dosen in den Iran geschickt werden.
Kuba darf im Iran testen
Rohani sagte, er werde es nicht zulassen, dass Iraner als Versuchskaninchen für fremde Mächte missbraucht würden – doch das gilt offenbar nicht für alle Staaten. Während die westlichen Impfstoffe aus dem Iran ferngehalten werden, erhielt Kuba die Erlaubnis, einen Corona-Impfstoff an Iranern zu testen. Neben Kuba kommen zudem Russland und China nach Khameneis Vorgaben als ideologisch unbedenkliche Impfstofflieferanten für den Iran infrage. Es ist aber nicht bekannt, ob, wann und in welchen Mengen diese Länder ihre Impfstoffe in den Iran schicken könnten. Die iranischen Behörden arbeiten zudem an einem eigenen Impfstoff, der erst in einigen Monaten fertig sein wird.
Damit fällt der Iran in der regionalen Bekämpfung der Pandemie weit zurück. Nachbarn wie Saudiarabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Bahrain, Kuwait und Israel haben bereits Millionen ihrer Bürger geimpft und verlassen sich dabei auf westliche Impfstoffe. Auch der Irak und Ägypten haben die Präparate von Biontech/Pfizer und AstraZeneca bestellt. Jordanien will in den nächsten Tagen mit den Impfungen beginnen, die Türkei strebt laut Regierungsmedien einen Impfbeginn in den kommenden Wochen an.
Wegen des Importstopps für westliche Impfstoffe werfen Kritiker dem Teheraner Regime vor, mit dem Leben iranischer Coronapatienten zu spielen. Khamenei verübe ein „absichtliches Massaker“, erklärte die Exiloppositionsgruppe NCRI. Der iranische Reformpolitiker Mostafa Tajzade schrieb auf Twitter, niemand habe das Recht, Entscheidungen gegen den Rat von Experten und Fachorganisationen zu treffen, auch Khamenei nicht. Schließlich habe der Kampf gegen die Pandemie absoluten Vorrang. Die Weltgesundheitsorganisation rief den Iran auf, die Pandemiebekämpfung nicht zu politisieren. Mansoureh Mills, ein Iran-Experte bei Amnesty International, sagte dem US-Sender RFE, das Importverbot sei ein Beispiel für die Verachtung der iranischen Behörden für die Menschenrechte.
Viermal so viele Opfer?
Damit setzt sich die Serie von Behördenversagen, Fehlern und Vertuschungsversuchen fort, die den Umgang der Teheraner Führung mit der Pandemie seit dem Ausbruch vor einem Jahr prägen. Zunächst leugnete die Regierung erste Coronafälle, dann spielte sie die Zahl der Infektionen herunter und zögerte mit harten LockdownMaßnahmen. Nach Einschätzung der Exilopposition gibt es nach wie vor keine verlässlichen amtlichen Angaben über das Ausmaß der Coronaverbreitung im Iran: Die tatsächliche Zahl der Todesopfer liegt demnach bei 200.000 – fast viermal höher als offiziell zugegeben.