Deutscher Impfsonderweg sorgt für Unmut
Analyse. Berlin sichert sich gegen die EU-Vereinbarung Impfstoffdosen, steigt um dreistellige Millionenbeträge bei Pharmaunternehmen ein und fördert neue Standorte: Im europäischen Ausland wittert man unfairen Egoismus.
Brüssel. Schon in wenigen Wochen soll es im hessischen Marburg losgehen: An einem vormaligen Standort des Konkurrenten Novartis plant das deutsche Pharmaunternehmen Biontech, seinen Impfstoff gegen Covid-19 herzustellen. Schon in den ersten sechs Monaten sollen es eine Viertelmilliarde Dosen sein. Für diese Standortentscheidung gibt es starken Rückenwind aus Berlin. Vergangene Woche beriet Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihren zuständigen Ministern, wie diese zusätzliche Impfstoffproduktion durch den Bund gefördert werden kann, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus Regierungskreisen.
Das ist eigentlich eine gute Nachricht. Doch der Umstand, dass sich Deutschland hinter die Stärkung der Arzneimittelproduktion auf europäischem Boden klemmt und dafür viel Geld auszugeben bereit ist, sorgt im europäischen Ausland für wachsendes Misstrauen. Der immer lauter von Politikern und Medien geäußerte Verdacht: Die Deutschen pfeifen auf die von ihnen sonst so hoch gelobte europäische Solidarität und schaffen sich Sonderbedingungen und Bevorzugungen bei der Beschaffung von Impfstoffen gegen das Virus. Während Kanzlerin Merkel einerseits salbungsvoll die Europäische Kommission als einzigen Verhandler mit den Pharmakonzernen erklärt, segnete sie gleichsam hintenherum Spezialdeals mit den Konzernen ab.
„Kein Recht, zu verhandeln“
So lautet zumindest der Vorwurf. Berlin weist ihn beharrlich zurück. Doch mehrere Umstände nähren diese Anschuldigung. Allen voran das Abkommen der Bundesregierung mit Biontech und seinem USPartner Pfizer vom September vorigen Jahres, 30 Millionen Dosen ihres Impfstoffes an Deutschland zu liefern – zwei Monate bevor die Kommission ihren EU-weiten Abschluss mit Pfizer/Biontech präsentierte.
Streng genommen hätte Berlin dieses Abkommen nicht schließen dürfen. Denn laut einem Beschluss der 27 Mitgliedstaaten vom vergangenen Juni soll einzig die Kommission mit den Impfstoffherstellern Rahmenverträge verhandeln. Nationale Alleingänge sind rechtswidrig: Das sagt sogar die mächtigste Deutsche in Brüssel, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Auf der Grundlage dieser rechtlich bindenden Vereinbarung hat kein Mitgliedstaat das Recht, gleichzeitig zu verhandeln oder Verträge zu schließen“, erklärt sie am Freitag vergangener Woche bei einer Pressekonferenz.
Doch wo kein Kläger, da kein Richter: „Der Spiegel“berichtete am Wochenende zwar von hitzigen Debatten über die Verteilung der bestellten Impfstoffe innerhalb des Gremiums der Beamten aus den Mitgliedstaaten, welches der Kommission bei ihren Verhandlungen auf die Finger schaut. Aus der Deckung heraus mit offener Kritik am deutschen Vorgehen wagt sich kein Mitgliedstaat. Mit Berlin will man sich nicht anlegen.
Zumal es fragwürdig ist, ob von der Leyen sich einen Rechtsstreit mit Berlin mitten in der zweiten oder dritten Welle der Pandemie leisten kann. Wenn der Beschluss der Mitgliedstaaten, Einzelverhandlungen zu verbieten, rechtswirksam ist, wie von der Leyen es sagt, dann müsste sie eigentlich ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnen. Bloß fragen sich Brüsseler Beobachter dieses Geschehens auch, wer denn durch Berlins Vorpreschen geschädigt sei: Die 30 Millionen zusätzlicher Dosen sollen, heißt es im deutschen Gesundheitsministerium, erst dann ausgeliefert werden, wenn die gemeinsam bestellten Chargen verteilt sind. Das wird ohnehin noch bis spät in dieses Jahr dauern.
Von Frankreich gelernt
Die Covidkrise hat die vorherrschende deutsche Sichtweise auf die Teilhabe von Staat und Unternehmen an der Bewältigung großer Probleme stark verändert. Lange kritisierte man den Staatsinterventionismus des Partners jenseits des Rheins. Nun betätigt sich die deutsche Regierung in staatlicher Beteiligungspolitik nach französischem Zuschnitt. Das prominenteste Beispiel dafür ist die 23-Prozent-Beteiligung des Bundes am deutschen Impfstoffhersteller Curevac. Als im Frühling Gerüchte umgingen, US-Präsident Donald Trump wolle Curevac mit Milliardenbeträgen in die Vereinigten Staaten locken, ließ Wirtschaftsminister Peter Altmeier in Windeseile rund 300 Millionen Euro für die Curevac-Aktien springen. Von einem raschen Verkauf ist in den nächsten Jahren nicht auszugehen.