Spaniens Wirtschaft am Abgrund
Coronakrise. Nach dem Zusammenbruch des Tourismus schließen immer mehr Geschäfte: Kein anderes EU-Land leidet wirtschaftlich so stark unter der Pandemie wie Spanien.
Madrid. Jeden Morgen um neun öffnen sich die Türen des Kapuzinerklosters in Palma de Mallorca, um Essen an die Armen zu verteilen. Die Schlange der Wartenden misst mehrere Hundert Meter. Sie ist in diesen Tagen so lang wie noch nie. In ihr spiegelt sich die wachsende Not auf der Urlaubsinsel. Und die tiefe Krise im Tourismusgeschäft.
Bevor die Coronapandemie ausbrach, habe man etwa 100 bis 150 Essensrationen täglich verteilt, berichtet Pater Gil Pares.´ Nun seien es gut doppelt so viele Portionen. „Früher haben wir vor allem Obdachlosen geholfen“, sagt der Klostervorsteher. Aber jetzt kommen auch andere Leute – darunter viele Menschen, die durch Corona ihren Job verloren haben.
Der Tourismus ist Mallorcas wichtigste Einnahmequelle. Und diese ist seit dem Ausbruch der Pandemie im März 2020 weitgehend versiegt. Die meisten Hotels mussten schließen, Tausende Kellner und Zimmermädchen stehen auf der Straße. Die Urlaubshochburgen gleichen heute Geisterstädten. Im Jahr 2020 kamen 88 Prozent weniger ausländische Feriengäste als im Vorjahr. „Katastrophal“, klagt der Branchenverband Exceltur. „Ohne Tourismus stirbt die Insel“, sagen die Hoteliers. Mit dem Urlaubsgeschäft wird mehr als ein Drittel des Inselwohlstands erwirtschaftet. Spanienweit ist der Tourismus mit zwölf Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung ebenfalls die wichtigste Einnahmequelle. Weswegen im ganzen Land die Armut wächst, und mit ihr die Zahl der Wartenden vor den Suppenküchen.
„Das Schlimmste kommt noch“
In diesem Szenario ist es für Regierungschef Pedro Sanchez´ nicht einfach, Optimismus zu verbreiten. „Wir werden die Coronapandemie bezwingen“, verspricht der Sozialist. Und damit bekomme man auch die Wirtschaftskrise in den Griff. Zumal Licht am Ende des Tunnels auftauche, weil es inzwischen Impfstoffe gebe. Doch auf der Straße herrscht Skepsis. Laut dem staatlichen Stimmungsbarometer des Umfrage-Instituts CIS schätzen neun von zehn Bürgern die wirtschaftliche Lage als „schlecht“ein.
„Das Schlimmste kommt noch“, sagt der Kioskbesitzer, der in Madrids Cityviertel Salamanca die Morgenzeitungen verkauft. Das Schlimmste, das ist für den Mann nicht die Coronakrise, sondern die Wirtschaftskatastrophe, die sich im Gefolge der Pandemie ausbreitet, und die auch in der spanischen Hauptstadt sichtbar ist. Immer mehr Ladenlokale sind verrammelt. „Wegen Geschäftsaufgabe zu verkaufen“, steht an einem Schaufenster, hinter dem früher Schuhe angeboten wurden. „Wir mussten leider schließen“, informiert an der Ladentür des Friseurs nebenan ein weiteres Schild. Spaniens Einzelhandelsverband schätzt, dass landesweit in den vergangenen Monaten bereits mehr als 67.000 Läden dicht machten – rund 15 Prozent des Gesamtbestands. Der Coronawelle folgt die Pleitewelle.
Arbeitslosigkeit auf 16 Prozent gestiegen
Ähnlich schwarz sieht es in Madrids berühmter Kneipen- und Restaurantszene aus. Eines der jüngsten Opfer ist der Speisetempel Zalaca´ın, in dem auch die Königsfamilie gern tafelte. Der Umsatz brach ein, die Kosten liefen weiter. „Ein Tsunami“, sagt die Restaurantchefin. Um die soziale und wirtschaftliche Talfahrt zu stoppen, hat Sanchez‘´ Koalition aus Sozialisten und der linksalternativen Partei Podemos ein gigantisches Hilfsprogramm verabschiedet: Insgesamt wurden 200 Milliarden Euro an Zuschüssen, Krediten und Bürgschaften bereitgestellt. Damit sollen vor allem kleine und mittlere Unternehmen, aber auch bedürftige Familien gestützt werden.
Das ist bitter notwendig. Kein anderes EU-Mitglied leidet wirtschaftlich so sehr unter der Pandemie wie Spanien. Wohl auch deswegen, weil das Königreich schon vor Beginn der Coronakrise auf schwachen Füßen stand. Die Folgen der Immobilien-, Bankenund Schuldenkrise, die das Land 2012 an den Rand der Staatspleite brachte, sind noch nicht verdaut. Die EU schaut entsprechend sorgenvoll nach Madrid: Brüssel schätzt, dass Spaniens Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2020 um 12,4 Prozent einbrach. Auch bei den übrigen Konjunkturdaten gehört Spanien zu den EU-Schlusslichtern. Die Arbeitslosigkeit stieg laut Eurostat auf 16 Prozent – das ist mehr als doppelt so viel wie der EUSchnitt, der zuletzt bei 7,5 lag. In der Altersgruppe der unter 25-Jährigen stehen sogar 40 Prozent der Arbeitsfähigen auf der Straße.
Durch Corona-Sonderausgaben und gigantischen Steuerverlusten explodiert zugleich die Staatsverschuldung, die Schätzungen zufolge 2020 auf 120 Prozent des BIPs wuchs – mehr als je zuvor. Bedenklich ist ebenfalls das Haushaltsdefizit, das im vergangenen Jahr mit über zwölf Prozent einen neuen Minusrekord erreicht haben dürfte. Immerhin hatte Sanchez’´ Drängen in Brüssel, dass den besonders unter Corona leidenden Ländern großzügig unter die Arme gegriffen werden müsse, Erfolg: Spanien wurden 140 Milliarden Euro an Hilfen und Krediten aus dem europäischen Wiederaufbaufonds zugesagt, davon müssen 72 Milliarden nicht zurückgezahlt werden – nur Italien bekommt mehr. Ein Geldregen, den Sanchez´ nutzen will, um seinem Land wieder auf die Beine zu helfen.