Der meisterhafte Tanz auf allen Hochzeiten
Nachtslalom. Nach zahlreichen Neustarts ist Michelle Gisin, 27, heuer nicht nur die Nummer eins im überragenden Schweizer Damenteam. Sie ist auch erste Verfolgerin von Petra Vlhov´a – im Kugelkampf und heute Abend in Flachau.
Flachau. Insgesamt 13 Damenrennen wurden in diesem Winter bisher gefahren, Michelle Gisin stand bei zwölf am Start und landete zehnmal in den Top Ten – zumindest einmal in jeder Disziplin. Die 27-jährige Engelbergerin ist die derzeit beste Allrounderin der Skiwelt, die Nummer eins im überragenden Team von Swiss Ski und die erste Verfolgerin von Petra Vlhova.´ Sowohl im Gesamtweltcup als auch im Nachtslalom in Flachau (18/20.45 Uhr, ORF1).
Was die Olympiasiegerin von 2018 (Kombination) bei ihrem Marathon-Programm antreibt: Der feste Glaube daran, dass man in der einen Disziplin von der anderen profitiert. Am besten zeigt sie das aktuell im Slalom. Denn Gisin war es auch, die mit ihrem Semmering-Triumph Ende Dezember das Duo Shiffrin/Vlhova´ nach 28 Slalomsiegen in Serie (seit Jänner 2017) entthront hat. Mit ihrem erstem Weltcupsieg endete auch eine unrühmliche Schweizer Durststrecke, der letzte Slalom-Erfolg einer Eidgenossin hatte zuvor von Jänner 2002 (Marlies Oester) datiert.
„Eine Befreiung für unser Team“, erklärte Gisin.
Aber nicht nur für das Team. Gisins eigene Karriere war bis zuletzt ein stetes Auf und Ab, ein Hin und Her zwischen den Disziplinen. Einst Slalom-Spezialistin wandte sich die Schweizerin nach einer „Blockade“, wie sie es nannte, Super-G und Abfahrt zu. Unter Anleitung ihrer älteren Schwester Dominique Gisin, der Abfahrtsolympiasiegerin von 2014, und ihrem älteren Bruder Marc Gisin nacheifernd. Der Umstieg funktionierte, die ersten Podestplätze folgten. „Was ich im Slalom jahrelang investiert habe, kommt in den anderen Disziplinen zurück. Skitechnisch, vor allem aber mental“, erklärte sie der „Neuen Zürcher Zeitung“. Voller Selbstvertrauen schielte die langjährige Freundin des italienischen Rennläufers Luca De Aliprandini – das Paar bewohnt ein Haus am Gardasee – auch in Richtung Gesamtweltcup.
Doch die Karrieren von Gisins Geschwister waren geprägt gewesen von schweren Verletzungen,
Dominique hat zig Knieoperationen hinter sich, und Marc war im Dezember 2018 in Gröden so schwer gestürzt, dass ein Comeback misslang. Im vergangenen Herbst beendete der 32-Jährige schließlich seine Karriere. Der Unfall des Bruders hat Spuren bei Michelle Gisin hinterlassen, in einer Abfahrt hat sie es seither nur noch einmal in die Top fünf geschafft (Dritte in Zauchensee 2020).
Über diese Angstgefühle hat sie stets offen gesprochen. Überhaupt verzichtet Gisin auf die Stehsätze mancher Konkurrentinnen. So erklärte sie auch, dass ihr die Schweizer Heimat mitunter zu „reserviert“und „steif“sei, unlängst hat sie auch dem Tabu-Thema Spitzensport und Menstruation eine öffentliche Stimme gegeben.
Skifahrerisch sind aktuell wieder die Technik-Disziplinen ihre stärksten. Gisins Bilanz in den vier bisherigen Slaloms vor Flachau: ein Sieg, ein zweiter, ein dritter, ein fünfter Rang. „Slalom ist eine große Hassliebe von mir, aber die Liebe überwiegt den Hass letztlich eben doch“, sagt sie. (joe)