Nun ist München auf Rattle stolz
Klassik. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hat sich erneut einen „großen Namen“als Chefdirigenten gesichert: Sir Simon Rattle folgt auf Mariss Jansons.
Seit dem Tod des Publikumslieblings Mariss Jansons gab es hinter den Kulissen heftige Bemühungen vonseiten einiger Dirigenten, den begehrten Posten des musikalischen Leiters des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (in der Branche kurz: SOBR) zu erlangen. Dieses Amt ist begehrt, nicht nur weil es wie alle Münchner Kulturpositionen besonders gut dotiert ist, sondern weil es viele Möglichkeiten medialer Präsenz und Verwertung der künstlerischen Tätigkeit bietet.
Nicht zuletzt das hat Jansons seinerzeit dazu bewogen, sich für München zu entscheiden. Damals musste er wegen chronischer Arbeitsüberlastung zwischen zwei Orchestern wählen, die ihn beide als Chefdirigenten behalten wollten. Das renommierte Amsterdamer Concertgebouw-Orchester unterlag in diesem Wettstreit. Jansons wählte das SOBR, das in Zeiten der Teilung Deutschlands als einzige Konkurrenz galt, vor der sich die Berliner Philharmoniker zu fürchten hatten.
Seit dem Fall der Mauer spielen zwar auch die Traditionsorchester aus Leipzig und Dresden wieder im großen internationalen Konzert mit. Aber die Bayern gehören nach wie vor zur den Besten. Das liegt auch daran, das sie seit ihrer Gründung von einer im Münchner Musikleben konkurrenzlos luxuriösen Führungselite geprägt wurden: Auf den ersten Chefdirigenten, Eugen Jochum, folgten Rafael Kubel´ık, Colin Davis und Lorin Maazel, allesamt bedeutende Erzieher von Orchestern.
Dank seiner Stellung als Rundfunk-Ensemble war das SOBR von Anfang an in den Medien präsent – und konnte in den Studios auch unter besten Bedingungen Aufnahmen machen. Vor allem unter Kubel´ıks Führung realisierte man legendäre Großprojekte wie die Gesamtaufnahme der Symphonien Gustav Mahlers. Ihr kam nur Leonard Bernsteins New Yorker Pioniertat zuvor (wobei Kenner Kubel´ıks musikantischen Zugang zu dieser Musik besonders schätzen und die Münchner Aufnahme daher für viele bis heute als erste Wahl gilt).
Engagement für die Moderne
Doch schloss das SOBR von Anfang an auch an die von Karl Amadeus Hartmann begründete Tradition der Aufführungen Neuer Musik an. „Musica viva“, wie der Zyklus hieß, brachte die Cr`eme de la Cr`eme der damaligen Komponisten an das Dirigentenpult: Igor Strawinsky dirigierte seine eigenen Werke ebenso wie Paul Hindemith und Hans Werner Henze.
Aber auch die „Fortschrittspartei“war mit Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Mauricio Kagel vertreten. Kubel´ık selbst engagierte sich für die Musik seiner Landsleute Martinu und Jana´cek,ˇ aber auch für Karl Amadeus Hartmanns Symphonien.
Die Ära des großen Maestros dauerte beinah zwei Jahrzehnte lang. Nirgendwo hat es der Heißsporn auch nur annähernd so lang ausgehalten wie in München. Kubel´ıks Nachfolger sollte mit Kirill Kondraschin einer der prägenden russischen Dirigenten jener Epoche werden. Doch er starb in der Vorbereitungsphase. Nach der Schreckstarre, während derer man auf Gastdirigenten setzte, kam mit Colin Davis ein unaufgeregt effektiver Maestro an das Pult, der vor allem die Kompetenz eines großen Symphonieorchesters bei der Interpretation klassischer Musik in Zeiten der aufkeimenden Originalklang-Debatte überzeugend und mit Traditionsbewusstsein zu pflegen verstand.
Lorin Maazel sicherte dem Orchester danach verstärkt internationale Aufmerksamkeit. Er führte die Bayern unter anderem erstmals zu den Salzburger Festspielen und begann mit einer verstärkten Videodokumentation des klassischen und romantischen Repertoires.
Hier konnte Mariss Jansons ansetzen. Von der weltweiten Aufmerksamkeit und den großzügigen medialen Möglichkeiten wird auch Sir Simon Rattle profitieren, der – wie „Die Presse“bereits gemeldet hat – für die kommenden fünf Spielzeiten zum Chefdirigenten gekürt worden ist. Er hat das SOBR 2010 zum ersten Mal dirigiert und zuletzt Großprojekte wie Aufführungen und Aufnahmen von Wagners „Rheingold“und „Die Walküre“mit dem Orchester realisiert.
Seine Zuneigung zu den Münchner Musikern datiert aber bereits aus seinen Teenagerjahren: Das Gastspiel des SOBR unter Rafael Kubel´ık mit Beethovens Neunter in Liverpool bezeichnete Rattle als ein Schlüsselerlebnis „für einen jungen Mann, der sich in den Kopf gesetzt hatte, Dirigent zu werden“.
Nun dirigiert der ehemalige Chef der Berliner Philharmoniker neben seiner Tätigkeit als Leiter des London Symphony Orchestra also auch jenes Orchester, dessen Auftritt er einst als so inspirierend empfunden hat.