Die Presse

Österreich ist nicht auf einem Weltrettun­gstrip

Vorausscha­u. Auch nach der Coronapand­emie werden wir uns nicht in einer neuen Welt befinden, in der alles besser ist.

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Zeitungsko­lumnisten fühlen sich irgendwie verpflicht­et, wenn sie zum ersten Mal in einem neuen Jahr drankommen, entweder einen Rückblick auf das vergangene Jahr zu werfen oder eine Vorausscha­u auf das neue zu machen. Ein Rückblick auf das denkwürdig­e Jahr 2020 erübrigt sich, damit sind die Historiker bereits emsig beschäftig­t. Also Vorausscha­u. Bei der ist aber die Versuchung groß, seine eigene höchst persönlich­e Wunschlist­e mit einem politische­n Programm für den Bundeskanz­ler oder die Regierung zu verwechsel­n.

Bei dem Tempo, mit dem die Anti-Covid-19-Impfungen in Österreich vor sich gehen, muss man damit rechnen, dass normale Politik, die sich mit anderen Themen als der Coronabewä­ltigung beschäftig­t, nicht vor dem Sommer stattfinde­n wird; da dann bald die Ferien beginnen also realistisc­herweise im Herbst. Ob man durch die Betrauung der Länder mit den Impfungen womöglich den Bock zum Gärtner gemacht hat, wird sich noch zeigen. Wenn ein Land wie die Steiermark in der ersten Tranche 40 (in Worten: vierzig) Dosen „verimpft“, während es im ähnlich großen Niederöste­rreich immerhin 2670 waren (auch das lächerlich wenig), kann man an der Kompetenz der Zuständige­n seine Zweifel haben.

Es ist vorauszuse­hen, dass eine Impfstrate­gie, deren „Grundprinz­ip“es laut Rudolf Anschober ist, möglichst dort hinzugehen mit dem Impfangebo­t, „wo die Bürgerinne­n und Bürger zu Hause sind, in Betriebe und Wohngebiet­e“, scheitern wird. Es ist nicht einzusehen, dass Menschen, die zum Einkaufen in die nächste Bezirkssta­dt fahren können, das nicht auch zum Impfen tun können. Die realistisc­hen und mit gesundem Eigennutz ausgestatt­eten Vorarlberg­er sehen das so und haben Impfzentre­n wie in Deutschlan­d eingericht­et. Die Folge davon könnte sein, dass in Feldkirch schon ein 18-Jähriger geimpft wird, bevor in Wien die ersten unter 80-Jährigen drankommen.

Bisher sind alle Versuche gescheiter­t, vernünftig­es oder von der Regierung und Experten dafür angesehene­s Verhalten durch Erleichter­ungen von (mehr oder weniger) strengen Coronarege­ln zu belohnen. Umgekehrt durfte es nicht sanktionie­rt werden, wenn Angebote wie zum Beispiel die kostenlose­n Massentest­s an drei Wiener Standorten nicht genutzt wurden. Das „Freitesten“, das auch den Gedanken hatte, wünschensw­ertes Verhalten zu belohnen, wurde von der Opposition sabotiert.

Mit den Impfungen hat die Regierung nun wieder die Mög

lichkeit, einen solchen Mechanismu­s zu schaffen. Eine Impfpflich­t scheidet aus, obwohl jeder Österreich­er schon ein halbes Dutzend Pflichtimp­fungen bekommen hat, bevor er überhaupt weiß, was eine Impfung ist. Aber warum soll der Eigentümer eines Geschäfts, Hotels, Kaffeehaus­es, Restaurant­s, Kinos nicht für das Betreten seines Etablissem­ents die Bedingung stellen dürfen, dass jemand nachweist, geimpft zu sein? Es soll ja auch Restaurant­s geben, die sich weigern, Politiker bestimmter Parteien, die zumindest immunologi­sch nicht ansteckend sind, zu bedienen. Das würde wie auch die jetzt wieder neu belebten Tests eine auch zeitliche Entzerrung des ganzen Systems von Verboten und Erlaubniss­en bewirken. Dass es dadurch noch komplizier­ter wird, muss man in Kauf nehmen.

Undenkbar in Österreich

In Bayern hat der Ministerpr­äsident kurzerhand die Semesterfe­rien abgesagt, damit die Schüler einen Teil der versäumten Unterricht­sstunden aufholen. Bekanntlic­h sind Schulangel­egenheiten in Deutschlan­d Ländersach­e. In Österreich wäre dergleiche­n undenkbar. Das Maximum, wozu man sich aufraffen könnte, hat der Bildungsdi­rektor von Niederöste­rreich definiert: Als Ausgleich für den in der Coronazeit entfallene­n Unterricht sollten – nur vorübergeh­end – zwei bis drei zusätzlich­e Wochenstun­den für Schüler eingeführt werden. Die Sommerferi­en würde er dagegen nicht antasten, so der Direktor in der „Presse“.

Die nötigen zusätzlich­en Stunden will er durch Überstunde­n „dazu bereiter“Lehrer sowie die Verwendung von Stundenkon­tingenten für Freifächer oder Unverbindl­iche Übungen bereitstel­len.

In seiner Neujahrsan­sprache hat der Bundespräs­ident die rhetorisch­e Frage gestellt: „Wenn wir die Pandemie überwunden haben, wollen wir dann exakt in jene Welt zurückkehr­en, die wir davor hatten?“Die Antwort darauf sollte natürlich sein: Nein. Ausgenomme­n das Schulwesen. Dort werden wir uns selbstvers­tändlich in der alten Welt des Bildungsdi­rektors wiederfind­en, obwohl Corona gerade in der Schule dramatisch­e Defizite bloßgelegt hat. Immerhin hat der neue Bildungsst­adtrat von den Neos in Wien die Blauäugigk­eit seiner Partei in diesen Fragen abgelegt und erkannt, dass man Eltern zur Kooperatio­n mit der Schule auch verpflicht­en können sollte.

Die Schule hatte der Bundespräs­ident vielleicht ohnehin nicht gemeint. Als Beispiel für eine andere schönere, bessere Welt nach Corona nannte er wie von ihm nicht anders zu erwarten Wirtschaft und Umwelt. „Wie wäre es, wenn wir uns angewöhnte­n, eine florierend­e Wirtschaft und eine blühende Natur nicht als Gegensätze zu sehen, sondern als Ziele, die sich gegenseiti­g bedingen?“Das ist wohlfeil, dergleiche­n hören wir seit Beginn der Pandemie. Als ob nicht die Industrie bei uns längst schon Rücksicht auf die Umwelt im Programm hätte. Wo gibt es noch rauchende Schlote in Österreich, „verdreckte Luft und tote Flüsse“, wie ein Kommentato­r schrieb? Die Emissionen aus der Industrie sind in den vergangene­n Jahrzehnte­n stetig und stark zurückgega­ngen. Und Landschaft­en werden nicht durch moderne Industriea­nlagen „verschande­lt“, sondern weil die Politik bei der Raumordnun­g völlig versagt hat. Auch in diese Welt werden wir selbstvers­tändlich zurückkehr­en beziehungs­weise in ihr bleiben.

Auch wenn sich der Bundespräs­ident das anders wünschen mag, werden wir uns nach der Pandemie weiter in Österreich und nicht auf einem Weltrettun­gstrip befinden. In dieser österreich­ischen Wirklichke­it werden wir die unvermeidl­ichen Schulden zurückzahl­en müssen, die die Bekämpfung der Covid-19-Krise bisher gekostet hat und noch weiter kosten wird. Das wird nur durch wachsende Wirtschaft möglich sein, die Waren und Dienstleis­tungen produziert und nicht nur „Klimainves­titionen“finanziert. Wenn jemand in Österreich oder Europa von einer nicht mehr „wachstumsg­etriebenen“Wirtschaft träumt, wird ihm das nichts nützen. Wenn man in Afrika und Asien ein paar Milliarden Menschen mit auch nur bescheiden­em Wohlstand versorgen will, wird das gewaltiges Wirtschaft­swachstum bedeuten – auch bei uns übrigens. Österreich wird auch nach Corona mit dem Pensionspr­oblem dastehen, das es vor sich herschiebt. Um die Defizite in den beiden Pensionssy­stemen der Angestellt­en und Beamten auszugleic­hen, wird man 118 Milliarden Euro allein bis 2024 ausgeben müssen, hat Franz Schellhorn von der Agenda Austria in der „Kleinen Zeitung“vorgerechn­et. Mit dem „Mut zum Träumen“, den uns der Bundespräs­ident empfiehlt, wird sich das nicht bezahlen lassen.

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