Die wirre, irreale Welt in den römischen Regierungspalazzi
Italiens Politkrise inmitten der Coronakrise ist eine internationale Blamage und ein Schlag ins Gesicht aller Italiener, die von der Pandemie getroffen sind.
Die politischen Wirren in den Palazzi Roms bezeichnete der „Corriere della Sera“in seinem Newsletter sehr treffend als „figuraccia planetaria“– frei übersetzt: als „eine Blamage planetaren Ausmaßes“. Und tatsächlich: Warum sich Italiens Regierung ausgerechnet wegen EU-Coronahilfen zerfleischt – das Land ist größter Nutznießer des Wiederaufbaufonds –, wird man in der EU genau erklären müssen. Aber die Regierungskrise ist mehr als nur international peinlich. Sie ist ein Schlag ins Gesicht für alle Italiener, die von Covid-19 gesundheitlich, wirtschaftlich und persönlich getroffen werden und wurden.
Denn einen plausiblen Grund für den Koalitionsbruch mitten in einer Jahrhundertpandemie gibt es nicht: Nicht einmal intern ist klar, was genau das Ziel von Matteo Renzi ist, dem Hauptverantwortlichen des Crashs. Inhaltlich mag der frühere Premier in einigen Punkten recht haben. Seinen Forderungen nach mehr Geld für das Gesundheitswesen kam man denn auch entgegen. Legitim ist ebenfalls, dass Renzi darauf pocht, für die Sanierung des maroden Krankenhaus-Systems günstige Darlehen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in Anspruch zu nehmen. Dies scheitert am Widerstand der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung, stärkste Kraft der Koalition – sie sieht im EU-Rettungsschirm das Teufelswerkzeug der EU-Troika. Dass die Regierung bisher ESM-Kredite nicht beantragt hat, sorgt nicht nur in vielen EU-Hauptstädten, sondern auch beim Koalitionspartner, den Linksdemokraten, für Unverständnis, da das Gesundheitssystem im Frühjahr in Norditalien kollabiert ist.
Doch rechtfertigt dieser Streit eine noch lähmendere politische Krise mitten in der Pandemie? Das tut er nicht. Zumal es gar nicht um ESM-Gelder geht: Im Vordergrund stehen Machtkämpfe und Eitelkeiten. Premier Giuseppe Conte und Renzi mögen sich nicht, zuletzt boten sie ein trostloses Spektakel der Zankereien, wobei Conte in Dauerangst lebt, ins Eck gedrängt zu werden. Hinzu kamen Plänkeleien mit Außenminister Luigi Di Maio. Der FünfSterne-Chef kämpft ebenfalls um sein Plätzchen im Rampenlicht.
Renzis Selbstbewusstsein hingegen grenzt an Hybris: Das einstige politische
Wunderkind, der international gefeierte hyperdynamische Reformer, hat es nie verkraftet, nach seinem Rücktritt 2016 in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht zu sein. Das Kalkül, mit einer eigenen Zentrumspartei mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, ging nicht auf: In Umfragen liegt Italia Viva bei drei Prozent. Wie auch immer der Machtpoker mit Conte ausgeht – Renzis Ansehen schadet es. In einer Befragung gaben 73 Prozent der Italiener an, sein Hauptmotiv sei „persönliches Interesse“.
International wird man angesichts dieser – erneuten – undurchschaubaren Italien-Krise den Kopf schütteln. Staaten, die EU-Hilfen skeptisch gegenüberstanden, werden sich bestätigt fühlen: Italien präsentiert sich wieder als chaotisches, instabiles Land, dem man nicht trauen kann.
Aber im Grunde sind Image und Intrigen irrelevant angesichts der Jahrhundertkrise, die das Land zu bewältigen hat. „Die Titanic geht unter, und das Orchester spielt“, kommentiert einer der prominenten Virologen des Landes verbittert die Politkrise. Denn so sieht die reale Welt außerhalb der römischen Regierungspaläste aus: Am Mittwoch dürfte Italien die kritische Marke der 80.000 Covid-Toten überschreiten. Die Angst vor den Folgen des mutierten Virus geht um, neue Lockdowns drohen. In Spitälern fehlen Betten und Personal. Das Land steckt in einer tiefen Rezession, mit Rekordwerten bei Armut, Arbeitslosigkeit und Pleiten. Und frustrierte Schüler demonstrieren, weil sie endlich wieder normal unterrichtet werden wollen und um ihre Zukunft bangen.
Italiener haben im Frühling durch Disziplin und Eigeninitiative bewiesen, dass sie Meister im Krisenmanagement sind. Ärzte und Pfleger haben eigene Grenzen überschritten, Italiens Forscher im In- und Ausland haben wertvolle Erkenntnisse zur Bewältigung der Pandemie beigetragen. Sie alle verdienen nicht dieses verantwortungslose Trauerspiel, das ihre Politiker ihnen derzeit bieten. Mehr zum Thema:
Rom. Angekündigt war die Scheidung der italienischen Regierungskoalition für Mittwoch. Am späten Nachmittag wollte Ex-Premier Matteo Renzi bekannt geben, ob er wie angedroht seine Ministerinnen aus dem Bündnis abzieht – und somit den Sturz herbeiführt. Ohne Renzis Kleinstpartei Italia Viva hat die vom parteilosen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte geführte Koalition keine ausreichende Mehrheit mehr.
Bis tief in die Nacht am Dienstag sowie den ganzen Mittwoch war verhandelt und nach einer Alternative zur Krise inmitten der Pandemie gesucht worden. Man bot dem rebellischen Renzi sogar einen neuen Koalitionsdeal an. Doch die Fronten waren verhärtet: Im Kern der Streitigkeiten stehen die finanziellen Hilfen, die die EU Italien zugesprochen hat, um mit den Folgen der Coronakrise fertig zu werden. Absurderweise droht eine erklärt europafreundliche Koalition über ebenjene Hilfen zu stürzen, die die EU ihr zugesagt hat, um sie gegen die europakritische Opposition zu stützen.
Streit um 36 Milliarden Euro
Ausgelöst hat Renzi den aktuellen Streit mit seinen Koalitionspartnern, der sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) und der populistischen Fünf-Sterne-Partei. Stein des Anstoßes war ursprünglich der Finanzierungsplan für die EU-Gelder, die Italien aus dem Corona-Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“erhalten wird. Rom muss der EU-Kommission diesen Plan bis Mitte Februar vorlegen, um an die Rekordsumme von 209 Mrd. Euro zu kommen, die die EU dem Land in einer Mischung aus Krediten und Zuschüssen zur Verfügung stellen wird – allerdings erst, nachdem sie den Ausgabenplan geprüft hat.
Italien hat die Gelder dringend nötig, um überfällige Reformen anzugehen, eine Verzögerung kann es sich nicht leisten. Diesen Zeitdruck hat Renzi ausgenutzt, um als kleinster Partner der Koalition sein maximales Gewicht zu entfalten und sich über Wochen mit Kritik am Plan ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stellen. Für Renzi hat sich der Streit allein deshalb gelohnt, weil er für seine rund 3,2 Prozent Zustimmungswerte eine unverhältnismäßig große Bühne bekommen hat.
Am späten Dienstagabend kam es dann – dank der Enthaltung von Italia Viva – zu einer Einigung über die Inhalte des Plans. Doch Renzi beharrte darauf, dass die Regierung sich zusätzlich dazu bekennt, den EURettungsschirm ESM zu nutzen. Diesen hatte die EU im Frühjahr als schnelle Hilfe aufgesetzt, um die Folgen der Coronakrise abzufedern. Italien könnte auf diesem Weg 36 Mrd. Euro Kredite zu günstigen Konditionen erhalten und sie in das Gesundheitssystem stecken, das zu Beginn der Pandemie im Frühling zum Teil kollabierte.
Renzi hängt die Regierungskrise damit absichtlich an einem EU-Hilfsmechanismus auf, von dem er weiß, dass er symbolisch so vergiftet ist, dass die Regierung ihn nicht nutzen kann: Der größte der drei Koalitionspartner – die Fünf-Sterne-Bewegung – würde ihr Gesicht verlieren. Die populistische Partei wurde bei Parlamentswahlen 2018 auch wegen ihrer europakritischen Haltung zur stärksten Kraft und hat seit jeher Stimmung gegen den ESM gemacht. Auch der Umstand, dass sie sich nun in einer Koalition mit den europafreundlichen Parteien PD und Italia Viva befinden, hat nicht zum kompletten Kurswechsel geführt.
Angst vor Souveränitätsverlusten
Und so stellen die Fünf Sterne den ESM nach wie vor als Instrument dar, mit dem Italien, wenn es diesen nutzt, seine nationale Souveränität teilweise an die EU abtreten würde. Sie weisen auf die Eurokrise von 2008 hin, als Länder wie Griechenland, Portugal und Spanien im Gegenzug zu günstigen Krediten strenge Reformauflagen der EU umsetzten mussten. Diese Ängste wurden auch von der rechten Opposition bedient und dominierten über lange Zeiträume die politische Debatte. Matteo Salvini, Chef der rechten Lega, twitterte im Mai: „Der ESM ist ein Vertrag mit Bedingungen – und das sage nicht nur ich. Sobald der Gesundheitsnotstand vorbei ist, riskiert Italien eine Sonderüberwachung durch die Troika.“
Dabei steht der Nutzung des ESM eigentlich nichts entgegen, wie der Ökonom Marcello Messori von der römischen LUISSUniversität im „Presse“-Gespräch erklärt: „Der Zugang zum ESM ist mit ähnlichen Bedingungen verknüpft wie die Gelder der Recovery and Resilience Facility, die im ,Next Generation EU‘-Plan enthalten sind.“Wenn Rom also wie geplant diese Gelder in Anspruch nimmt, könne die Regierung ebenso gut auf ESM-Kredite zurückgreifen.
Nach Ansicht Messoris wäre dies sogar ratsam, weil der ESM speziell für das Gesundheitssystem gedacht ist, dessen eklatante Mängel in der ersten Welle der Pandemie überdeutlich geworden sind. Aber Messori weiß, dass in der Debatte Fakten nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die Argumente, über die die Koalition diskutiere, seien „nicht wirtschaftlicher Natur“, formuliert es der Wirtschaftswissenschaftler. Denn: „Dieser ESM hat nichts mit dem alten ESM zu tun.“
Doch die Gelegenheit, den Wählern all das zu erklären, ist längst verstrichen. Zu negativ ist der Begriff ESM besetzt. So machte Premierminister Giuseppe Conte schon im Dezember klar, dass die Regierung nicht vorhabe, ESM-Kredite zu beantragen. Der parteilose Conte folgt in dieser Frage der Linie der Fünf Sterne, die den ESM unter keinen Umständen nutzen wollen – auch wenn das bedeutet, mitten in einer Pandemie eine Regierungskrise durchzustehen.