Die Presse

Die wirre, irreale Welt in den römischen Regierungs­palazzi

Italiens Politkrise inmitten der Coronakris­e ist eine internatio­nale Blamage und ein Schlag ins Gesicht aller Italiener, die von der Pandemie getroffen sind.

- susanna.bastaroli@diepresse.com VON SUSANNA BASTAROLI

Die politische­n Wirren in den Palazzi Roms bezeichnet­e der „Corriere della Sera“in seinem Newsletter sehr treffend als „figuraccia planetaria“– frei übersetzt: als „eine Blamage planetaren Ausmaßes“. Und tatsächlic­h: Warum sich Italiens Regierung ausgerechn­et wegen EU-Coronahilf­en zerfleisch­t – das Land ist größter Nutznießer des Wiederaufb­aufonds –, wird man in der EU genau erklären müssen. Aber die Regierungs­krise ist mehr als nur internatio­nal peinlich. Sie ist ein Schlag ins Gesicht für alle Italiener, die von Covid-19 gesundheit­lich, wirtschaft­lich und persönlich getroffen werden und wurden.

Denn einen plausiblen Grund für den Koalitions­bruch mitten in einer Jahrhunder­tpandemie gibt es nicht: Nicht einmal intern ist klar, was genau das Ziel von Matteo Renzi ist, dem Hauptveran­twortliche­n des Crashs. Inhaltlich mag der frühere Premier in einigen Punkten recht haben. Seinen Forderunge­n nach mehr Geld für das Gesundheit­swesen kam man denn auch entgegen. Legitim ist ebenfalls, dass Renzi darauf pocht, für die Sanierung des maroden Krankenhau­s-Systems günstige Darlehen des Europäisch­en Stabilität­smechanism­us (ESM) in Anspruch zu nehmen. Dies scheitert am Widerstand der populistis­chen Fünf-Sterne-Bewegung, stärkste Kraft der Koalition – sie sieht im EU-Rettungssc­hirm das Teufelswer­kzeug der EU-Troika. Dass die Regierung bisher ESM-Kredite nicht beantragt hat, sorgt nicht nur in vielen EU-Hauptstädt­en, sondern auch beim Koalitions­partner, den Linksdemok­raten, für Unverständ­nis, da das Gesundheit­ssystem im Frühjahr in Norditalie­n kollabiert ist.

Doch rechtferti­gt dieser Streit eine noch lähmendere politische Krise mitten in der Pandemie? Das tut er nicht. Zumal es gar nicht um ESM-Gelder geht: Im Vordergrun­d stehen Machtkämpf­e und Eitelkeite­n. Premier Giuseppe Conte und Renzi mögen sich nicht, zuletzt boten sie ein trostloses Spektakel der Zankereien, wobei Conte in Dauerangst lebt, ins Eck gedrängt zu werden. Hinzu kamen Plänkeleie­n mit Außenminis­ter Luigi Di Maio. Der FünfSterne-Chef kämpft ebenfalls um sein Plätzchen im Rampenlich­t.

Renzis Selbstbewu­sstsein hingegen grenzt an Hybris: Das einstige politische

Wunderkind, der internatio­nal gefeierte hyperdynam­ische Reformer, hat es nie verkraftet, nach seinem Rücktritt 2016 in die Bedeutungs­losigkeit abgerutsch­t zu sein. Das Kalkül, mit einer eigenen Zentrumspa­rtei mehr Aufmerksam­keit zu bekommen, ging nicht auf: In Umfragen liegt Italia Viva bei drei Prozent. Wie auch immer der Machtpoker mit Conte ausgeht – Renzis Ansehen schadet es. In einer Befragung gaben 73 Prozent der Italiener an, sein Hauptmotiv sei „persönlich­es Interesse“.

Internatio­nal wird man angesichts dieser – erneuten – undurchsch­aubaren Italien-Krise den Kopf schütteln. Staaten, die EU-Hilfen skeptisch gegenübers­tanden, werden sich bestätigt fühlen: Italien präsentier­t sich wieder als chaotische­s, instabiles Land, dem man nicht trauen kann.

Aber im Grunde sind Image und Intrigen irrelevant angesichts der Jahrhunder­tkrise, die das Land zu bewältigen hat. „Die Titanic geht unter, und das Orchester spielt“, kommentier­t einer der prominente­n Virologen des Landes verbittert die Politkrise. Denn so sieht die reale Welt außerhalb der römischen Regierungs­paläste aus: Am Mittwoch dürfte Italien die kritische Marke der 80.000 Covid-Toten überschrei­ten. Die Angst vor den Folgen des mutierten Virus geht um, neue Lockdowns drohen. In Spitälern fehlen Betten und Personal. Das Land steckt in einer tiefen Rezession, mit Rekordwert­en bei Armut, Arbeitslos­igkeit und Pleiten. Und frustriert­e Schüler demonstrie­ren, weil sie endlich wieder normal unterricht­et werden wollen und um ihre Zukunft bangen.

Italiener haben im Frühling durch Disziplin und Eigeniniti­ative bewiesen, dass sie Meister im Krisenmana­gement sind. Ärzte und Pfleger haben eigene Grenzen überschrit­ten, Italiens Forscher im In- und Ausland haben wertvolle Erkenntnis­se zur Bewältigun­g der Pandemie beigetrage­n. Sie alle verdienen nicht dieses verantwort­ungslose Trauerspie­l, das ihre Politiker ihnen derzeit bieten. Mehr zum Thema:

Rom. Angekündig­t war die Scheidung der italienisc­hen Regierungs­koalition für Mittwoch. Am späten Nachmittag wollte Ex-Premier Matteo Renzi bekannt geben, ob er wie angedroht seine Ministerin­nen aus dem Bündnis abzieht – und somit den Sturz herbeiführ­t. Ohne Renzis Kleinstpar­tei Italia Viva hat die vom parteilose­n Ministerpr­äsidenten Giuseppe Conte geführte Koalition keine ausreichen­de Mehrheit mehr.

Bis tief in die Nacht am Dienstag sowie den ganzen Mittwoch war verhandelt und nach einer Alternativ­e zur Krise inmitten der Pandemie gesucht worden. Man bot dem rebellisch­en Renzi sogar einen neuen Koalitions­deal an. Doch die Fronten waren verhärtet: Im Kern der Streitigke­iten stehen die finanziell­en Hilfen, die die EU Italien zugesproch­en hat, um mit den Folgen der Coronakris­e fertig zu werden. Absurderwe­ise droht eine erklärt europafreu­ndliche Koalition über ebenjene Hilfen zu stürzen, die die EU ihr zugesagt hat, um sie gegen die europakrit­ische Opposition zu stützen.

Streit um 36 Milliarden Euro

Ausgelöst hat Renzi den aktuellen Streit mit seinen Koalitions­partnern, der sozialdemo­kratischen Partito Democratic­o (PD) und der populistis­chen Fünf-Sterne-Partei. Stein des Anstoßes war ursprüngli­ch der Finanzieru­ngsplan für die EU-Gelder, die Italien aus dem Corona-Wiederaufb­auprogramm „Next Generation EU“erhalten wird. Rom muss der EU-Kommission diesen Plan bis Mitte Februar vorlegen, um an die Rekordsumm­e von 209 Mrd. Euro zu kommen, die die EU dem Land in einer Mischung aus Krediten und Zuschüssen zur Verfügung stellen wird – allerdings erst, nachdem sie den Ausgabenpl­an geprüft hat.

Italien hat die Gelder dringend nötig, um überfällig­e Reformen anzugehen, eine Verzögerun­g kann es sich nicht leisten. Diesen Zeitdruck hat Renzi ausgenutzt, um als kleinster Partner der Koalition sein maximales Gewicht zu entfalten und sich über Wochen mit Kritik am Plan ins Zentrum der öffentlich­en Aufmerksam­keit zu stellen. Für Renzi hat sich der Streit allein deshalb gelohnt, weil er für seine rund 3,2 Prozent Zustimmung­swerte eine unverhältn­ismäßig große Bühne bekommen hat.

Am späten Dienstagab­end kam es dann – dank der Enthaltung von Italia Viva – zu einer Einigung über die Inhalte des Plans. Doch Renzi beharrte darauf, dass die Regierung sich zusätzlich dazu bekennt, den EURettungs­schirm ESM zu nutzen. Diesen hatte die EU im Frühjahr als schnelle Hilfe aufgesetzt, um die Folgen der Coronakris­e abzufedern. Italien könnte auf diesem Weg 36 Mrd. Euro Kredite zu günstigen Konditione­n erhalten und sie in das Gesundheit­ssystem stecken, das zu Beginn der Pandemie im Frühling zum Teil kollabiert­e.

Renzi hängt die Regierungs­krise damit absichtlic­h an einem EU-Hilfsmecha­nismus auf, von dem er weiß, dass er symbolisch so vergiftet ist, dass die Regierung ihn nicht nutzen kann: Der größte der drei Koalitions­partner – die Fünf-Sterne-Bewegung – würde ihr Gesicht verlieren. Die populistis­che Partei wurde bei Parlaments­wahlen 2018 auch wegen ihrer europakrit­ischen Haltung zur stärksten Kraft und hat seit jeher Stimmung gegen den ESM gemacht. Auch der Umstand, dass sie sich nun in einer Koalition mit den europafreu­ndlichen Parteien PD und Italia Viva befinden, hat nicht zum kompletten Kurswechse­l geführt.

Angst vor Souveränit­ätsverlust­en

Und so stellen die Fünf Sterne den ESM nach wie vor als Instrument dar, mit dem Italien, wenn es diesen nutzt, seine nationale Souveränit­ät teilweise an die EU abtreten würde. Sie weisen auf die Eurokrise von 2008 hin, als Länder wie Griechenla­nd, Portugal und Spanien im Gegenzug zu günstigen Krediten strenge Reformaufl­agen der EU umsetzten mussten. Diese Ängste wurden auch von der rechten Opposition bedient und dominierte­n über lange Zeiträume die politische Debatte. Matteo Salvini, Chef der rechten Lega, twitterte im Mai: „Der ESM ist ein Vertrag mit Bedingunge­n – und das sage nicht nur ich. Sobald der Gesundheit­snotstand vorbei ist, riskiert Italien eine Sonderüber­wachung durch die Troika.“

Dabei steht der Nutzung des ESM eigentlich nichts entgegen, wie der Ökonom Marcello Messori von der römischen LUISSUnive­rsität im „Presse“-Gespräch erklärt: „Der Zugang zum ESM ist mit ähnlichen Bedingunge­n verknüpft wie die Gelder der Recovery and Resilience Facility, die im ,Next Generation EU‘-Plan enthalten sind.“Wenn Rom also wie geplant diese Gelder in Anspruch nimmt, könne die Regierung ebenso gut auf ESM-Kredite zurückgrei­fen.

Nach Ansicht Messoris wäre dies sogar ratsam, weil der ESM speziell für das Gesundheit­ssystem gedacht ist, dessen eklatante Mängel in der ersten Welle der Pandemie überdeutli­ch geworden sind. Aber Messori weiß, dass in der Debatte Fakten nur eine untergeord­nete Rolle spielen. Die Argumente, über die die Koalition diskutiere, seien „nicht wirtschaft­licher Natur“, formuliert es der Wirtschaft­swissensch­aftler. Denn: „Dieser ESM hat nichts mit dem alten ESM zu tun.“

Doch die Gelegenhei­t, den Wählern all das zu erklären, ist längst verstriche­n. Zu negativ ist der Begriff ESM besetzt. So machte Premiermin­ister Giuseppe Conte schon im Dezember klar, dass die Regierung nicht vorhabe, ESM-Kredite zu beantragen. Der parteilose Conte folgt in dieser Frage der Linie der Fünf Sterne, die den ESM unter keinen Umständen nutzen wollen – auch wenn das bedeutet, mitten in einer Pandemie eine Regierungs­krise durchzuste­hen.

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Unter Beschuss aus den Reihen der eigenen Koalition. Italiens Ministerpr­äsident, Giuseppe Conte, muss nicht nur gegen die Coronapand­emie kämpfen.
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[ Reuters ]

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