Britisches Spitalswesen vor dem Kollaps
Großbritannien. Die Regierung in London versucht verzweifelt, der Pandemie Herr zu werden, die mittlerweile auch Irland überrollt. Experten rechnen mit dem Höhepunkt erst im Februar.
London. Mit einer beispiellosen Kraftanstrengung versucht die britische Regierung, die rasante Ausbreitung des Coronavirus unter Kontrolle zu bringen. Premierminister Boris Johnson kündigte gestern, Mittwoch, „so rasch wie möglich“den Start von Impfungen rund um die Uhr an. Details blieb er schuldig, doch bekräftigte er das Ziel, bis Mitte Februar 14 Millionen Menschen der vier größten Risikogruppen mit Impfungen vor dem Virus schützen zu wollen.
Die Beschleunigung des Impfprogramms erfolgt vor dem Hintergrund der dramatischen Ausweitung der Krise. Mit 1243 Toten wurde am Dienstag in England die zweithöchste Sterbezahl an einem einzigen Tag seit Ausbruch der Krise vor rund einem Jahr registriert. Mehr als 35.000 Covid-Patienten befinden sich derzeit in britischen Krankenhäusern, mehr als während des ersten Lockdowns im Frühjahr. Nachdem allein innerhalb der vorigen Woche 6213 Patienten neu dazugekommen sind, warnen die Krankenanstalten vor dem Kollaps.
So sagt der oberste Gesundheitsbeamte Englands, Chris Whitty: „Der Höhepunkt der Krise steht uns erst bevor.“Verantwortlich dafür gemacht wird die neue Virusvariante. Man rechne damit, den „Höhepunkt erst im Februar“zu erreichen. Experten warnten die Regierung, dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf bis zu 250.000 steigen könnte.
Weil das Gesundheitswesen schon lang zuvor an seine Kapazitätsgrenzen gelangen wird, überlegt man mittlerweile die Auslagerung von rekonvaleszenten Patienten auf leer stehende Hotels. Krankenanstalten wollen sich damit auf „zusätzlichen Notfallbedarf“vorbereiten. Zudem sollen Covid-Patienten zur Genesung in Pflegeheime verlegt werden, ein besonders umstrittener Vorstoß, sind doch Alten- und Pflegeanstalten bisher Zentren der Infektion gewesen. Gesundheitsminister Matt Hancock dementierte dennoch nur halbherzig: „Wir verfolgen derartige Pläne momentan nicht aktiv.“
Impfung in Supermarktfiliale
Zugleich appellierte er einmal mehr an die Bevölkerung, die Ausgangsbeschränkungen strikt einzuhalten: „Es liegt an jedem Einzelnen von uns.“Geöffnet sind in England nur mehr Geschäfte mit „lebenswichtigen Gütern“, die Bürger sind verpflichtet, so weit wie möglich zu Hause zu bleiben.
Für die Einreise nach Großbritannien gilt ab Freitag, vier Uhr früh, die Verpflichtung zur Vorlage eines negativen Coronatests, der nicht älter als 72 Stunden sein darf. Auch dann unterliegt man aber einer zehntägigen Quarantäne. Die Schulen bleiben bis auf Weiteres geschlossen, maximal vorerst bis zum 31. März.
Obwohl die Briten die Impfung sehr schnell und auch mit unkonventionellen Mitteln ausrollen (die Supermarktkette Asda beginnt in der kommenden Woche im Auftrag des NHS in einer Großfiliale in Birmingham mit Impfungen), ist die Wirkung bisher kaum spürbar. Dennoch gibt es erste Anzeichen für Besserung: Im Süden Englands, wo die neue Variante des Virus zuerst aufgetaucht war, fallen mittlerweile die Zahlen der Neuinfektionen: „Der Durchschnitt scheint sich abzuflachen“, sagt Nigel Marriott, ein Medizinstatistiker.
Nach einer neuen Untersuchung der Gesundheitsbehörde ist die Übertragungswahrscheinlichkeit des mutierten Virus zudem nicht, wie bisher befürchtet, 70 Prozent höher als jene des „ChinaVirus“, sondern 30 bis 50 Prozent. Die Pharmafirmen bekräftigten auch, ihre Wirkstoffe schützten vor der neuen Variante. AstraZeneca versprach, bis Februar zwei Millionen Dosen am Tag liefern zu können. Der Epidemiologe Adam Kucharski aber warnte: „Wir haben eine Pandemie in der Pandemie.“
Irland erlebt „einen Tsunami“
Das erlebt aktuell auch Irland. Im November noch ein Vorzeigeland mit der niedrigsten Inzidenzzahl in Europa, steht das Land heute an der Spitze der Infektionszahlen im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße. Von den rund fünf Millionen Iren waren zu Wochenbeginn 150.000 als infiziert registriert, nachdem es zu Jahresbeginn erst 93.000 gewesen waren.
Für die rapide Ausbreitung werden die offene Grenze mit Nordirland, das lange Beibehalten des Flugverkehrs und die Lockerung des Lockdowns über Weihnachten verantwortlich gemacht. Premier Micheal´ Martin sagt nun: „Wir erleben einen Tsunami.“