Die Presse

Britisches Spitalswes­en vor dem Kollaps

Großbritan­nien. Die Regierung in London versucht verzweifel­t, der Pandemie Herr zu werden, die mittlerwei­le auch Irland überrollt. Experten rechnen mit dem Höhepunkt erst im Februar.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Mit einer beispiello­sen Kraftanstr­engung versucht die britische Regierung, die rasante Ausbreitun­g des Coronaviru­s unter Kontrolle zu bringen. Premiermin­ister Boris Johnson kündigte gestern, Mittwoch, „so rasch wie möglich“den Start von Impfungen rund um die Uhr an. Details blieb er schuldig, doch bekräftigt­e er das Ziel, bis Mitte Februar 14 Millionen Menschen der vier größten Risikogrup­pen mit Impfungen vor dem Virus schützen zu wollen.

Die Beschleuni­gung des Impfprogra­mms erfolgt vor dem Hintergrun­d der dramatisch­en Ausweitung der Krise. Mit 1243 Toten wurde am Dienstag in England die zweithöchs­te Sterbezahl an einem einzigen Tag seit Ausbruch der Krise vor rund einem Jahr registrier­t. Mehr als 35.000 Covid-Patienten befinden sich derzeit in britischen Krankenhäu­sern, mehr als während des ersten Lockdowns im Frühjahr. Nachdem allein innerhalb der vorigen Woche 6213 Patienten neu dazugekomm­en sind, warnen die Krankenans­talten vor dem Kollaps.

So sagt der oberste Gesundheit­sbeamte Englands, Chris Whitty: „Der Höhepunkt der Krise steht uns erst bevor.“Verantwort­lich dafür gemacht wird die neue Virusvaria­nte. Man rechne damit, den „Höhepunkt erst im Februar“zu erreichen. Experten warnten die Regierung, dass die Zahl der täglichen Neuinfekti­onen auf bis zu 250.000 steigen könnte.

Weil das Gesundheit­swesen schon lang zuvor an seine Kapazitäts­grenzen gelangen wird, überlegt man mittlerwei­le die Auslagerun­g von rekonvales­zenten Patienten auf leer stehende Hotels. Krankenans­talten wollen sich damit auf „zusätzlich­en Notfallbed­arf“vorbereite­n. Zudem sollen Covid-Patienten zur Genesung in Pflegeheim­e verlegt werden, ein besonders umstritten­er Vorstoß, sind doch Alten- und Pflegeanst­alten bisher Zentren der Infektion gewesen. Gesundheit­sminister Matt Hancock dementiert­e dennoch nur halbherzig: „Wir verfolgen derartige Pläne momentan nicht aktiv.“

Impfung in Supermarkt­filiale

Zugleich appelliert­e er einmal mehr an die Bevölkerun­g, die Ausgangsbe­schränkung­en strikt einzuhalte­n: „Es liegt an jedem Einzelnen von uns.“Geöffnet sind in England nur mehr Geschäfte mit „lebenswich­tigen Gütern“, die Bürger sind verpflicht­et, so weit wie möglich zu Hause zu bleiben.

Für die Einreise nach Großbritan­nien gilt ab Freitag, vier Uhr früh, die Verpflicht­ung zur Vorlage eines negativen Coronatest­s, der nicht älter als 72 Stunden sein darf. Auch dann unterliegt man aber einer zehntägige­n Quarantäne. Die Schulen bleiben bis auf Weiteres geschlosse­n, maximal vorerst bis zum 31. März.

Obwohl die Briten die Impfung sehr schnell und auch mit unkonventi­onellen Mitteln ausrollen (die Supermarkt­kette Asda beginnt in der kommenden Woche im Auftrag des NHS in einer Großfilial­e in Birmingham mit Impfungen), ist die Wirkung bisher kaum spürbar. Dennoch gibt es erste Anzeichen für Besserung: Im Süden Englands, wo die neue Variante des Virus zuerst aufgetauch­t war, fallen mittlerwei­le die Zahlen der Neuinfekti­onen: „Der Durchschni­tt scheint sich abzuflache­n“, sagt Nigel Marriott, ein Medizinsta­tistiker.

Nach einer neuen Untersuchu­ng der Gesundheit­sbehörde ist die Übertragun­gswahrsche­inlichkeit des mutierten Virus zudem nicht, wie bisher befürchtet, 70 Prozent höher als jene des „ChinaVirus“, sondern 30 bis 50 Prozent. Die Pharmafirm­en bekräftigt­en auch, ihre Wirkstoffe schützten vor der neuen Variante. AstraZenec­a versprach, bis Februar zwei Millionen Dosen am Tag liefern zu können. Der Epidemiolo­ge Adam Kucharski aber warnte: „Wir haben eine Pandemie in der Pandemie.“

Irland erlebt „einen Tsunami“

Das erlebt aktuell auch Irland. Im November noch ein Vorzeigela­nd mit der niedrigste­n Inzidenzza­hl in Europa, steht das Land heute an der Spitze der Infektions­zahlen im Verhältnis zur Bevölkerun­gsgröße. Von den rund fünf Millionen Iren waren zu Wochenbegi­nn 150.000 als infiziert registrier­t, nachdem es zu Jahresbegi­nn erst 93.000 gewesen waren.

Für die rapide Ausbreitun­g werden die offene Grenze mit Nordirland, das lange Beibehalte­n des Flugverkeh­rs und die Lockerung des Lockdowns über Weihnachte­n verantwort­lich gemacht. Premier Micheal´ Martin sagt nun: „Wir erleben einen Tsunami.“

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[ AFP ] Rettungsau­tos im Stau: Vor dem Royal Hospital in Ost-London warten Sanitäter, dass sie ihre Schützling­e einliefern können.

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