Leitartikel von AnneCatherin Simon
Es gibt kaum ein übler beleumundetes Gefühl als den Neid. Man sollte diesen Begriff nicht ohne Not in die Pandemiedebatte hineintragen.
Man hätte ja erwartet, dass sich die Leute in Österreich 2021 vor allem über eine Impfpflicht persönlich in die Haare geraten. Stattdessen haben wir den ersten prominenten Zank über das Impfrecht – weil einer schon geimpft wurde und ein anderer nicht. Schon ist die Rede vom „Impfneid“zwischen Gruppen und Individuen.
Im aktuellen Fall geht es um zwei prominente alte Herren (beide unbestreitbar Corona-Risikopatienten): den 85-jährigen ehemaligen ORF-Intendanten, Journalisten und Theatermann Teddy Podgorski. Und Kardinal Christoph Schönborn, der in wenigen Tagen seinen 76. Geburtstag begeht. Schönborn hatte Ende 2019 nach einer Krebsoperation einen lebensbedrohlichen Lungeninfarkt erlitten und sich nur schwer davon erholt. Seit zwei Wochen ist er gegen Covid-19 geimpft.
Podgorski ging es offenbar anders. Bei der staatlichen Coronavirus-Hotline 0800 555 621 habe er gesagt bekommen: „Es gibt ka Impfung net“, schildert er im „Standard“in einem sarkastischen offenen Brief an Schönborn. „Wenn Sie, Eminenz, schon vor einigen Tagen geimpft wurden, muss es doch auch einen Impfstoff geben. Könnten Sie mir bitte sagen, wo? Vielleicht hat Ihr Dompfarrer irgendwelche Connections . . .“
Kardinal Schönborn antwortete im selben Medium, er habe das Angebot „einer Geriatrieeinrichtung in kirchlicher Trägerschaft“angenommen, sich impfen zu lassen, „falls Impfdosen übrig bleiben“. Die Auseinandersetzung mit Podgorski zeige ihm „auch etwas Positives: Der ,Impfneid‘ wächst! Neid ist zwar keine Tugend, aber er zeigt, dass Impfen ein begehrtes Gut ist.“
Ganz recht, Neid gilt in unserer Kultur nicht als Tugend – und das ist noch euphemistisch ausgedrückt. Es gibt kaum ein übler beleumundetes Gefühl. Man denkt an Gift und Galle dabei, auch Psychologen beschreiben es vor allem als die Psyche zersetzend, destruktiv.
In der katholischen Kirche zählt die „invidia“zu den Hauptlastern oder Wurzelsünden, aus der viele sündige Handlungen entstehen. Die längste Zeit der Kirchengeschichte hindurch verbot sich sozialer Neid für die Schäfchen, sie sollten reichlich genug haben an der künftigen himmlischen Gerechtigkeit.
Das Verhältnis der Kirche zu sozialer Gerechtigkeit hat sich längst gründlich geändert. Aber gerade ein mit dieser Tradition so gut vertrauter Kardinal sollte es meiden, das Wort vom „Impfneid“ins Spiel zu bringen; selbst unter Anführungszeichen, selbst als Antwort auf öffentliche Untergriffigkeit.
Natürlich ist Podgorskis sarkastische Attacke keine hilfreiche Zutat zur Impfdebatte. Die existenziellen Ängste, die darin auch zum Ausdruck kommen, teilen allerdings wohl viele. Und die grundsätzliche Frage, ob Menschen mit Status und Beziehungen schneller zu Impfdosen kommen (sollen) als andere, sollte nicht als „Impfneid“abgetan werden.
Es stimmt natürlich, was manche gern einwenden: Von Neid zu sprechen muss nicht bedeuten, dass man dessen Berechtigung abstreitet. Es ist das Gefühl, dass eine bestimmte Ungleichheit ungerecht ist – dieses Gefühl kann berechtigt sein oder auch nicht. So haben auch in der Debatte der Nullerjahre über die „Neidgesellschaft“einige Soziologen den Begriff ins Positive gewendet und gemeint, Neid könne als „empörend-rechtendes“Gefühl konstruktive Veränderungen herbeiführen.
Mag sein – aber seien wir ehrlich, welche Assoziationen weckt der Neid im alltäglichen Sprachgebrauch?
In Hollywood-Filmen bringen Katastrophen und andere existenzielle Krisen das Beste im Menschen zum Vorschein. In der Realität tun sie das zwar auch, aber nicht nur – sie befördern auch das Schlechteste. Gerade deswegen sollte man alles tun, um nicht auch noch unnötig die Rede vom „Impfneid“in die Pandemiedebatte hineinzutragen.
Reden wir vom Gefühl von Ungerechtigkeit angesichts einer Ungleichheit – und darüber, ob dieses Empfinden berechtigt ist oder nicht. Ist es berechtigt, ist die Frage, ob man etwas tun kann, um die Ungerechtigkeit zu beseitigen. Meistens kann man es.