Sexualität ist mehr als Biologie
Bildungswissenschaft. Künstlerische Formate rund um Pornografie, digitale Intimität und Konsens sollen die schulische Sexualpädagogik im 21. Jahrhundert ankommen lassen.
Wie schaut es hinter den Kulissen der Pornobranche aus? Und wie kann man Jugendlichen in der Schule vermitteln, dass das mehr mit Schauspielerei als mit echter Sexualität zu tun hat? Die Bildungswissenschaftlerinnen Elisabeth Sattler und Marion Thuswald von der Akademie der bildenden Künste Wien arbeiten seit fünf Jahren an der Schnittstelle Kunst, Sexualpädagogik und Medienerziehung. Sie wissen um die didaktische Herausforderung, zu der Sexualunterricht im digitalen Zeitalter geworden ist.
So kennen etwa fast alle Jugendlichen die Bilder des pornografischen Mainstreams, weshalb diese dann auch in ihrer Vorstellungswelt präsent sind, wenn es in der Schule um das Thema Sexualität geht. Zeigen kann man dieses Material hier aber freilich nicht – nur kritisch besprechen.
Auskunftsfreudiges Gleitgel
In dem von der Innovationsstiftung für Bildung geförderten Projekt „Reflecting Desires“, einem Nachfolgeprojekt des Citizen-Science-Projekts „Imagining Desires“, entwickelten Sattler und Thuswald Lehr- und Lernmaterialien, die zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit Fragen zu Beziehung, Sexualität, Kommunikation und Medien anregen sollen.
Ein Beispiel dafür ist ein animierter Porno-Aufklärungsfilm, den sie mit den Künstlern Adnan Popovic´ und Georg Oberlechner entwickelt haben. Er nimmt Anleihen bei den bei Jugendlichen beliebten YouTube-Formaten FakeDoku und Behind-the-Scene. In den Hauptrollen: Kamera Karrrla Kunt, Gleitgel Slikky Nikki, Spermakochtopf Gianni Gizz und die blaue Pille Trent Tabletto.
Die Requisiten plaudern aus dem Nähkästchen und geben Einblicke in die Arbeitsbedingungen am Pornoset. Sie legen Inszenierungstricks offen und erzählen von Ganzkörper-Make-up ebenso wie von schweißtreibenden Akrobatikübungen – kurz gesagt, vom Sotun-als-ob.
„Künstlerische Formate können Themen humoristisch ansprechen und kommen nicht in die Verlegenheit, explizite Inhalte abbilden zu müssen“, so Thuswald. Gleichzeitig würden sie Distanz schaffen, die wichtig sei, um Grenzüberschreitungen und Beschämungen zu vermeiden.
Neben Videos und kleinen interaktiven Tools wie Onlinespielen und Quiz sind in dem Projekt auch Begleitbroschüren für Pädagoginnen und Pädagogen entstanden. Sattler: „Damit können Lehrpersonen das Thema reflektiert angehen, denn auch für sie gibt es gewisse Schwellen. Es ist ein heikles Thema mit einigen Fallstricken – gerade im Kontext Schule.“
Die Materialien haben drei inhaltliche Schwerpunkte: Pornografie, digitale Intimität und Einvernehmlichkeit. „Wir verfolgen einen lustfreundlichen, sexpositiven Zugang und kombinieren diesen mit Gewaltprävention und Diskriminierungsreflektiertheit“, erklärt Thuswald. Dabei sei auch Konsens in prinzipiell einvernehmlichen Begegnungen ein bedeutender Aspekt. „Es ist wichtig, den Jugendlichen zu vermitteln, dass dieser nicht nur mündlich hergestellt werden kann, sondern eben auch über nonverbale Äußerungen, Blicke oder etwa das Tempo.“
Fortpflanzung ist nicht alles
Ende 2020 jährte sich die Verankerung des Unterrichtsprinzip Sexualpädagogik an österreichischen Schulen zum 50. Mal. Mit dem damaligen Erlass wurden die Bildungseinrichtungen explizit beauftragt, Sexualität ganzheitlich und damit fächerübergreifend zu behandeln. In der Realität kommt das Thema außerhalb des Biologieunterrichts immer noch recht selten vor. Und selbst das Wissen, das – folgt man den aktuell gebräuchlichen Schulbüchern – hier vermittelt wird, ist ein sehr reduziertes und auf die Fortpflanzung beschränktes.
Im Vergleich zu den 1970erJahren treffen die Lehrkräfte heute auf Jugendliche mit viel Vorwissen. „Es gab eine Demokratisierung des Sexualitätswissens – unabhängig von Erwachsenen“, sagt Thuswald. Das ist prinzipiell gut, birgt aber eben auch Probleme: „Das Wissen ist zwar zugänglich, doch es kursiert viel Blödsinn im Internet. Die Jugendlichen müssen lernen, die Inhalte richtig einzuschätzen, sie brauchen Orientierungswissen und ein Gefühl dafür, was sie überhaupt wissen wollen und was nicht.“Um das gut vermitteln zu können, müsse die Sexualpädagogik heute eng mit Medienerziehung verknüpft sein, fordert Sattler: „Dinge wie Sexting, Pornografie und Cyber-Mobbing betreffen immer beide Bereiche.“
Das Anknüpfen an die Praxis und an die Erfahrungswelten der Jugendlichen ist für die Bildungswissenschaftlerinnen ein wesentliches Element ihrer Forschung. Deshalb waren in ihren jüngsten Projekten nicht nur Lehramtsstudierende, sondern auch Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte des Wiener Bildungszentrums Kenyongasse partizipativ eingebunden.
„Reflecting Desires“läuft mit Ende Jänner aus, dann werden alle Materialien auf der Projektwebsite zugänglich sein. Darüber hinaus erscheint in Kürze der von Sattler und Thuswald herausgegebene Sammelband „Sexualität, Körperlichkeit und Intimität. Pädagogische Herausforderungen und professionelle Handlungsspielräume in der Schule“(Transkript).