Die Presse

Erzeugen wir zu viel?

Agrar. Milch im Kanal, Schweine im Stau, leere Regale. Corona sorgt für irre Verwerfung­en in der Landwirtsc­haft. Was nun? Sollen Europas Bauern leiser treten oder uns autark machen?

- VON MATTHIAS AUER

Milch im Kanal, Schweine im Stau, leere Regale.

Corona sorgt für Verwerfung­en in der Landwirtsc­haft. Sollen die Bauern leiser treten?

Wien. In Österreich war es nur ein Stück Hefe. Im ersten Lockdown zu Ostern war das Backmittel hoffnungsl­os ausverkauf­t. Andernorts waren die Auswirkung­en der Pandemie drastische­r: Ausgangssp­erren und Infektione­n zerstörten ganze Ernten, geschlosse­ne Grenzen und unterbroch­ene Lieferkett­en sorgten für leere Supermarkt­regale. Doch die Folgen von Covid-19 waren vor allem in der westlichen Welt komplexer. Zu wenig Nahrungsmi­ttel gab es hier nie – dafür mitunter zu viel.

Im Frühling mussten britische Molkereien etwa jeden Tag eine Million Liter Milch in den Kanal schütten, weil ihnen mit den Restaurant­s und Hotels die wichtigste­n Abnehmer weggebroch­en waren. Und in Deutschlan­d stehen aktuell immer noch über 700.000 Schweine im Stau vor der Schlachtba­nk, weil aus Infektions­schutzgrün­den weniger Schweine geschlacht­et werden. Die niedersäch­sische Agrarminis­terin, Barbara Otte-Kinast, fordert bereits ein Ende der deutschen ExportWirt­schaft im Agrarberei­ch. Aber kann es wirklich sein, dass Europa just im Krisenjahr 2020 zu viel Lebensmitt­el produziert­e?

Auch Österreich­s Bauern blieben von den Folgen der Pandemie nicht verschont. Im Sommer hat es lang gedauert, bis Erntehelfe­r aus Osteuropa über die Grenzen durften. Und noch heute spüren die Landwirte Einbruch des Konsums. „Wir haben aktuell große Schwierigk­eiten beim Absatz der Mengen“, bestätigt Landwirtsc­haftsminis­terin Elisabeth Köstinger (ÖVP) der „Presse“. In Normalzeit­en wird etwa die Hälfte aller Speisen außer Haus gegessen – gern auch von Touristen. Dieser Markt fällt komplett weg. Besonders kritisch ist das für Rinderbaue­rn und fleischver­arbeitende Betriebe, deren Produkte fast gänzlich auf die Bedürfniss­e der Gastronomi­e und Großküchen zugeschnit­ten waren. Die Bauern blieben zum Teil auf ihren Waren sitzen und litten lang unter dem Sinkflug der Preise.

Notfallpla­n für Lebensmitt­el

Deshalb zu glauben, dass Europa zu viel Lebensmitt­el erzeuge, sei aber grundfalsc­h, warnt Stephan Pernkopf, Präsident des Ökosoziale­n Forums. Nicht umsonst kündigte die EU-Kommission im Dezember einen Notfallpla­n an, der die Lebensmitt­elversorgu­ng der EU im Falle künftiger Krisen gewährleis­ten soll. „Wir können nach der Coronakris­e nicht zurück zur alten Normalität“, sagt Pernkopf. „Die Versorgung­ssicherhei­t muss einen höheren Stellenwer­t haben.“

Aber nicht alle Entwicklun­gen in Brüssel gehen in diese Richtung. Vor allem der Green Deal könnte eine Bedrohung werden, fürchtet der niederöste­rreichisch­e Landespoli­tiker. Der Landwirtsc­haft, weltweit immerhin für ein Drittel der Treibhausg­ase verantwort­lich, würden darin unter dem Schlagwort der Biodiversi­tät erhebliche Steine in den Weg gelegt. Die Folgen hat das amerikanis­che Landwirtsc­haftsminis­terium ausgerechn­et: Die EU würde ihre Agrarprodu­ktion um zwölf Prozent schmälern. Importe könnten die Lücke freilich rasch schließen, doch die Nahrungsmi­ttel würden 185 Millionen Menschen im Rest der Welt fehlen, so die Studie. „Ein Produktion­srückgang ist unverantwo­rtlich“, so Pernkopf. Immerhin müssen jedes Jahr 80 Millionen Menschen mehr ernährt werden.

Essen für Konsumpatr­ioten

Anders als in Deutschlan­d diskutiert, will Ministerin Köstinger nicht am Exportmode­ll der heimischen Landwirtsc­haft rütteln. Die Ausfuhren bringen der heimischen Wirtschaft jährlich zwölf Milliarden Euro. „Wir wollen nie wieder unsere Grenzen schließen“, betont sie. Das gelte auch für Importe, allerdings nur dann, wenn der „Handel auf Augenhöhe“stattfinde. Den Freihandel­spakt zwischen der EU und den südamerika­nischen Mercosur-Staaten lehnt die Politikeri­n weiterhin ab.

Unabhängig von allen politische­n Entscheidu­ngen könnte Europa auf einen Rückgang der Produktion zusteuern. Dann nämlich, wenn sich der Trend aus Deutschlan­d im Rest des Kontinents fortsetzt. Dort geben Landwirte, vor allem Schweineba­uern, reihenweis­e ihre Höfe auf. Eine entspreche­nde Erhebung in Österreich läuft gerade. Köstinger setzt auf Konsumpatr­iotismus, um die heimischen Landwirte zu stärken. Zumindest hier hat die Coronakris­e der Branche geholfen: Im Vorjahr stiegen die Ab-Hof-Verkäufe der heimischen Bauern um 41 Prozent an.

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