Erzeugen wir zu viel?
Agrar. Milch im Kanal, Schweine im Stau, leere Regale. Corona sorgt für irre Verwerfungen in der Landwirtschaft. Was nun? Sollen Europas Bauern leiser treten oder uns autark machen?
Milch im Kanal, Schweine im Stau, leere Regale.
Corona sorgt für Verwerfungen in der Landwirtschaft. Sollen die Bauern leiser treten?
Wien. In Österreich war es nur ein Stück Hefe. Im ersten Lockdown zu Ostern war das Backmittel hoffnungslos ausverkauft. Andernorts waren die Auswirkungen der Pandemie drastischer: Ausgangssperren und Infektionen zerstörten ganze Ernten, geschlossene Grenzen und unterbrochene Lieferketten sorgten für leere Supermarktregale. Doch die Folgen von Covid-19 waren vor allem in der westlichen Welt komplexer. Zu wenig Nahrungsmittel gab es hier nie – dafür mitunter zu viel.
Im Frühling mussten britische Molkereien etwa jeden Tag eine Million Liter Milch in den Kanal schütten, weil ihnen mit den Restaurants und Hotels die wichtigsten Abnehmer weggebrochen waren. Und in Deutschland stehen aktuell immer noch über 700.000 Schweine im Stau vor der Schlachtbank, weil aus Infektionsschutzgründen weniger Schweine geschlachtet werden. Die niedersächsische Agrarministerin, Barbara Otte-Kinast, fordert bereits ein Ende der deutschen ExportWirtschaft im Agrarbereich. Aber kann es wirklich sein, dass Europa just im Krisenjahr 2020 zu viel Lebensmittel produzierte?
Auch Österreichs Bauern blieben von den Folgen der Pandemie nicht verschont. Im Sommer hat es lang gedauert, bis Erntehelfer aus Osteuropa über die Grenzen durften. Und noch heute spüren die Landwirte Einbruch des Konsums. „Wir haben aktuell große Schwierigkeiten beim Absatz der Mengen“, bestätigt Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) der „Presse“. In Normalzeiten wird etwa die Hälfte aller Speisen außer Haus gegessen – gern auch von Touristen. Dieser Markt fällt komplett weg. Besonders kritisch ist das für Rinderbauern und fleischverarbeitende Betriebe, deren Produkte fast gänzlich auf die Bedürfnisse der Gastronomie und Großküchen zugeschnitten waren. Die Bauern blieben zum Teil auf ihren Waren sitzen und litten lang unter dem Sinkflug der Preise.
Notfallplan für Lebensmittel
Deshalb zu glauben, dass Europa zu viel Lebensmittel erzeuge, sei aber grundfalsch, warnt Stephan Pernkopf, Präsident des Ökosozialen Forums. Nicht umsonst kündigte die EU-Kommission im Dezember einen Notfallplan an, der die Lebensmittelversorgung der EU im Falle künftiger Krisen gewährleisten soll. „Wir können nach der Coronakrise nicht zurück zur alten Normalität“, sagt Pernkopf. „Die Versorgungssicherheit muss einen höheren Stellenwert haben.“
Aber nicht alle Entwicklungen in Brüssel gehen in diese Richtung. Vor allem der Green Deal könnte eine Bedrohung werden, fürchtet der niederösterreichische Landespolitiker. Der Landwirtschaft, weltweit immerhin für ein Drittel der Treibhausgase verantwortlich, würden darin unter dem Schlagwort der Biodiversität erhebliche Steine in den Weg gelegt. Die Folgen hat das amerikanische Landwirtschaftsministerium ausgerechnet: Die EU würde ihre Agrarproduktion um zwölf Prozent schmälern. Importe könnten die Lücke freilich rasch schließen, doch die Nahrungsmittel würden 185 Millionen Menschen im Rest der Welt fehlen, so die Studie. „Ein Produktionsrückgang ist unverantwortlich“, so Pernkopf. Immerhin müssen jedes Jahr 80 Millionen Menschen mehr ernährt werden.
Essen für Konsumpatrioten
Anders als in Deutschland diskutiert, will Ministerin Köstinger nicht am Exportmodell der heimischen Landwirtschaft rütteln. Die Ausfuhren bringen der heimischen Wirtschaft jährlich zwölf Milliarden Euro. „Wir wollen nie wieder unsere Grenzen schließen“, betont sie. Das gelte auch für Importe, allerdings nur dann, wenn der „Handel auf Augenhöhe“stattfinde. Den Freihandelspakt zwischen der EU und den südamerikanischen Mercosur-Staaten lehnt die Politikerin weiterhin ab.
Unabhängig von allen politischen Entscheidungen könnte Europa auf einen Rückgang der Produktion zusteuern. Dann nämlich, wenn sich der Trend aus Deutschland im Rest des Kontinents fortsetzt. Dort geben Landwirte, vor allem Schweinebauern, reihenweise ihre Höfe auf. Eine entsprechende Erhebung in Österreich läuft gerade. Köstinger setzt auf Konsumpatriotismus, um die heimischen Landwirte zu stärken. Zumindest hier hat die Coronakrise der Branche geholfen: Im Vorjahr stiegen die Ab-Hof-Verkäufe der heimischen Bauern um 41 Prozent an.