Lateinamerika als riesige Herausforderung für die USA
Analyse. Nach Jahren des Booms in den Nullerjahren hat sich südlich des Rio Grande vieles zum Schlechteren entwickelt. Vielerorts krachte die Wirtschaft, litt die Demokratie, wuchs die Armut, ziehen Migrantenmassen Richtung USA. Und mittlerweile mischen a
Buenos Aires. Joe Biden kennt Lateinamerika so gut wie bisher kaum ein anderer US-amerikanischer Regierungschef. In acht Jahren als Vizepräsident unter Barack Obama hatte er den Südteil des Kontinents 16 Mal besucht, öfter als Obama und Donald Trump zusammen. Er war einer der Architekten des erfolgreichen Kolumbien-Plans. Und er handelte das zwischenzeitliche Ende des Kuba-Embargos aus. Was kann die Region von dem erfahrenen neuen Präsidenten also erwarten?
Sicher ist: Biden kann nicht einfach dort weitermachen, wo Obama seinerzeit aufgehört hat. Er wird eine Region vorfinden, die sich in den vergangenen vier Jahren massiv verändert hat. Und zwar zum Schlechten. Das Nachlassen des Booms im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts, der erhebliche Teile der lateinamerikanischen Bevölkerung aus der Armut gehoben hatte, ließ Lateinamerikas chronische Probleme wieder hervortreten, die lang überdeckt gewesen waren. Weil sich Korruption in der Politik ebenso hielt wie die Ineffizienz der Justiz und massive Ungerechtigkeit in der Wohlstandsverteilung, wurde Südamerika 2019 von massiven Protesten erschüttert. Sogar der vermeintliche „Vorzeigestaat“Chile stand in Flammen. Und dann kam Covid.
Die Pandemie löste eine gigantische Rezession aus. Die Zahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, wird voraussichtlich 231 Millionen erreichen, was dem Niveau von 2005 entspricht. Neue Unruhen drohen – und Siege von populistischen Vielversprechern, denn 2021 ist ausgerechnet ein Superwahljahr auf dem Subkontinent.
Biden und sein Team haben angekündigt, Ton und Stil gegenüber Lateinamerika zu ändern. Also keine Diktate im Stile von „America First“, dafür einen verbesserten multilateralen Dialog über Themen wie die Pandemie, die Schaffung von Arbeitsplätzen und effizienteres Regieren.
Neue Helfer für den „Hinterhof der USA“
Jahrzehntelang konnten es sich Präsidenten von Clinton bis Trump leisten, Lateinamerika nur mit halbem Auge zu betrachten. Doch heute geht das nicht mehr. Denn nun dienen sich dem „Hinterhof der USA“neue Helfer an. Argentiniens linksperonistische Regierung etwa hat ihr Land gerade zum Experimentierfeld für die umstrittene russische Corona-Impfung Sputnik V gemacht. Und China sieht dort die Chance, mit Krediten und Vakzinen an Verträge zu kommen, um seine Rohstoff- und Nahrungsmittelversorgung für den längst begonnenen Wettlauf um die Weltherrschaft zu sichern.
Biden wird es nicht einfach haben. Denn die wirtschaftlichen Forderungen aus dem Süden werden gigantisch. Dabei dürfte eine zentrale Rolle dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zufallen, deren mächtigste Anteilseigner die USA sind. Mehrere Regierungen – allen voran das bankrotte Argentinien – verlangen Nachsicht bei ihren Kreditrückzahlungen, und auch frisches Geld vom IWF. Zum Schlüsselinstrument könnte die ebenfalls in Washington ansässige Interamerikanische Entwicklungsbank werden, deren Direktor seit wenigen Monaten erstmals ein US-Amerikaner ist. Allerdings ein ultrakonservativer Sohn von Exilkubanern, eingesetzt von Donald Trump. Hier zeichnet sich ein Konflikt ab.
Weitere werden folgen. In den vergangenen Jahren hat fast in der gesamten Region die Demokratie massiv gelitten. Wie Umfragen belegen, vertrauen in den meisten Ländern die Bürger inzwischen mehr den Militärs als ihren Politikern. Und Korruptionsermittlungen, die mehrere Regierungschefs ihre Ämter gekostet haben, sind vielerorts im Sand verlaufen, allen voran die Aufarbeitung des Petrobras-Sumpfes in Brasilien.
Dessen Präsident, Jair Bolsonaro, der Bidens Sieg lang nicht anerkennen wollte, hat Widerstand angedroht, sollte der neue USKlima-Beauftragte, John Kerry, wie angekündigt mit den Europäern eine „Allianz für den Amazonas“schmieden. Auch Bolsonaro könnte sich daran erinnern, dass sein Haupthandelspartner längst China heißt.
Sollte sich Biden wirklich (und nicht nur aus wahltaktischen Gründen, so wie Trump) mit Lateinamerika beschäftigen, muss er zwei gigantische Probleme angehen: Speziell Mittelamerika braucht endlich eine wirtschaftliche, soziale und sicherheitspolitische Perspektive, um nicht immer neue Migrationsströme zu generieren. Venezuela braucht einen Weg zurück zur Demokratie. Allein die Kosten für einen Wiederaufbau des total zerstörten Öl-Landes dürften alles in den Schatten stellen, was die Region bisher finanzieren musste.