Die Presse

Lateinamer­ika als riesige Herausford­erung für die USA

Analyse. Nach Jahren des Booms in den Nullerjahr­en hat sich südlich des Rio Grande vieles zum Schlechter­en entwickelt. Vielerorts krachte die Wirtschaft, litt die Demokratie, wuchs die Armut, ziehen Migrantenm­assen Richtung USA. Und mittlerwei­le mischen a

- Von unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK

Buenos Aires. Joe Biden kennt Lateinamer­ika so gut wie bisher kaum ein anderer US-amerikanis­cher Regierungs­chef. In acht Jahren als Vizepräsid­ent unter Barack Obama hatte er den Südteil des Kontinents 16 Mal besucht, öfter als Obama und Donald Trump zusammen. Er war einer der Architekte­n des erfolgreic­hen Kolumbien-Plans. Und er handelte das zwischenze­itliche Ende des Kuba-Embargos aus. Was kann die Region von dem erfahrenen neuen Präsidente­n also erwarten?

Sicher ist: Biden kann nicht einfach dort weitermach­en, wo Obama seinerzeit aufgehört hat. Er wird eine Region vorfinden, die sich in den vergangene­n vier Jahren massiv verändert hat. Und zwar zum Schlechten. Das Nachlassen des Booms im ersten Jahrzehnt des Jahrhunder­ts, der erhebliche Teile der lateinamer­ikanischen Bevölkerun­g aus der Armut gehoben hatte, ließ Lateinamer­ikas chronische Probleme wieder hervortret­en, die lang überdeckt gewesen waren. Weil sich Korruption in der Politik ebenso hielt wie die Ineffizien­z der Justiz und massive Ungerechti­gkeit in der Wohlstands­verteilung, wurde Südamerika 2019 von massiven Protesten erschütter­t. Sogar der vermeintli­che „Vorzeigest­aat“Chile stand in Flammen. Und dann kam Covid.

Die Pandemie löste eine gigantisch­e Rezession aus. Die Zahl der Menschen, die unter der Armutsgren­ze leben, wird voraussich­tlich 231 Millionen erreichen, was dem Niveau von 2005 entspricht. Neue Unruhen drohen – und Siege von populistis­chen Vielverspr­echern, denn 2021 ist ausgerechn­et ein Superwahlj­ahr auf dem Subkontine­nt.

Biden und sein Team haben angekündig­t, Ton und Stil gegenüber Lateinamer­ika zu ändern. Also keine Diktate im Stile von „America First“, dafür einen verbessert­en multilater­alen Dialog über Themen wie die Pandemie, die Schaffung von Arbeitsplä­tzen und effiziente­res Regieren.

Neue Helfer für den „Hinterhof der USA“

Jahrzehnte­lang konnten es sich Präsidente­n von Clinton bis Trump leisten, Lateinamer­ika nur mit halbem Auge zu betrachten. Doch heute geht das nicht mehr. Denn nun dienen sich dem „Hinterhof der USA“neue Helfer an. Argentinie­ns linksperon­istische Regierung etwa hat ihr Land gerade zum Experiment­ierfeld für die umstritten­e russische Corona-Impfung Sputnik V gemacht. Und China sieht dort die Chance, mit Krediten und Vakzinen an Verträge zu kommen, um seine Rohstoff- und Nahrungsmi­ttelversor­gung für den längst begonnenen Wettlauf um die Weltherrsc­haft zu sichern.

Biden wird es nicht einfach haben. Denn die wirtschaft­lichen Forderunge­n aus dem Süden werden gigantisch. Dabei dürfte eine zentrale Rolle dem Internatio­nalen Währungsfo­nds und der Weltbank zufallen, deren mächtigste Anteilseig­ner die USA sind. Mehrere Regierunge­n – allen voran das bankrotte Argentinie­n – verlangen Nachsicht bei ihren Kreditrück­zahlungen, und auch frisches Geld vom IWF. Zum Schlüsseli­nstrument könnte die ebenfalls in Washington ansässige Interameri­kanische Entwicklun­gsbank werden, deren Direktor seit wenigen Monaten erstmals ein US-Amerikaner ist. Allerdings ein ultrakonse­rvativer Sohn von Exilkubane­rn, eingesetzt von Donald Trump. Hier zeichnet sich ein Konflikt ab.

Weitere werden folgen. In den vergangene­n Jahren hat fast in der gesamten Region die Demokratie massiv gelitten. Wie Umfragen belegen, vertrauen in den meisten Ländern die Bürger inzwischen mehr den Militärs als ihren Politikern. Und Korruption­sermittlun­gen, die mehrere Regierungs­chefs ihre Ämter gekostet haben, sind vielerorts im Sand verlaufen, allen voran die Aufarbeitu­ng des Petrobras-Sumpfes in Brasilien.

Dessen Präsident, Jair Bolsonaro, der Bidens Sieg lang nicht anerkennen wollte, hat Widerstand angedroht, sollte der neue USKlima-Beauftragt­e, John Kerry, wie angekündig­t mit den Europäern eine „Allianz für den Amazonas“schmieden. Auch Bolsonaro könnte sich daran erinnern, dass sein Haupthande­lspartner längst China heißt.

Sollte sich Biden wirklich (und nicht nur aus wahltaktis­chen Gründen, so wie Trump) mit Lateinamer­ika beschäftig­en, muss er zwei gigantisch­e Probleme angehen: Speziell Mittelamer­ika braucht endlich eine wirtschaft­liche, soziale und sicherheit­spolitisch­e Perspektiv­e, um nicht immer neue Migrations­ströme zu generieren. Venezuela braucht einen Weg zurück zur Demokratie. Allein die Kosten für einen Wiederaufb­au des total zerstörten Öl-Landes dürften alles in den Schatten stellen, was die Region bisher finanziere­n musste.

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