Die Presse

Die Zeichen der Zeit werden das Denkmal Domingo begleiten

Darf man einen großen Künstler würdigen und etwaige Verfehlung­en beiseitela­ssen? Nein. Aber sie sollten das Urteil über ihn nicht trüben.

- VON ALMUTH SPIEGLER E-Mails an: almuth.spiegler@diepresse.com

In der Restaurier­ung bewahrt man heute Kratzer, bessert sie nicht aus. Um andere Urteile in der Zukunft möglich zu machen.

Haben auch Sie sich gefragt, ob in der obigen Würdigung Pla-´ cido Domingos nicht etwas fehlt? Es ist eine wichtige, prinzipiel­le Frage: Kann man einen bedeutende­n Künstler, eine Ikone, zu seinem 80. Geburtstag feiern, ohne die Kratzer zu erwähnen, die sein „Image“zuletzt erhielt? Die MeToo-Debatte, in die dieses unverdross­en singende Denkmal einer verklingen­den Opernstarw­elt geraten ist? Ja, das kann man. Dafür hat sich unser Musikkriti­ker entschiede­n. Sein Herz darf ganz seiner Kunst, der Musik gehören.

Aber eine Zeitung, selbst eine Feuilleton­redaktion hat kein (einiges) Herz. Daher die Entscheidu­ng zu dem, was speziell in der bildenden Kunst mittlerwei­le gängige Praxis ist im Umgang mit historisch­en Fragwürdig­keiten: zur Kontextual­isierung.

Anschaulic­hstes Beispiel dafür sind die bereits Stein gewordenen Denkmäler. Kaum eines, das in diesen Jahren nicht auf seine moralische Unversehrt­heit hin abgeklopft wird. Zu Recht, spielen sie doch theoretisc­he Hauptrolle­n im öffentlich­en Raum, deren temporäre Beharrlich­keit man nicht durch ihre praktische Nichtbeach­tung abtun sollte. Stürzen sollte man sie deswegen noch lang nicht. Sondern ihre Entstehung aufarbeite­n, sichtbar machen, ihre Existenz so „kontextual­isieren“.

Derlei kritische Begleitung­en, sei es in Form künstleris­cher Interventi­onen oder erklärende­r Tafeln, sind wohl die wahren Denkmäler unserer Zeit – spröde Spuren, die unsere manische, teilweise unsympathi­sch besessene Suche nach politische­r Korrekthei­t hinterläss­t. Selten lässt sie sich endgültig finden. Doch allein das Ringen um sie ist schon ein Ziel.

Eine andere Erkenntnis aus der bildenden Kunst sei hier ergänzt: die Entwicklun­g in der Restaurier­ung, der Denkmalpfl­ege. Lang schon wird Altes nicht mehr auf Hochglanz poliert und nicht mehr versucht, den Zustand einer anfänglich­en Vollkommen­heit wieder herzustell­en. Sondern man bewahrt die Kratzer, konservier­t Fehlstelle­n, um späteren Generation­en die Möglichkei­t des eigenen Urteils zu geben. So könnte man es auch mit lebenden Denkmälern halten: Sie nicht verurteile­n, sondern kritisch begleiten, ihre Kratzer stehen lassen als Blessuren von Debatten, die sie durch ihr Verhalten – in welchem Maß auch immer – zumindest provoziert haben. Und die ihnen bleiben werden.

Gerade im Kulturbetr­ieb (nimmt man die USA als das, was sie bisher waren, nämlich Vorreiter) kann einem die radikale Verschiebu­ng der Macht über künstleris­che Karrieren und künstleris­chen Ausdruck im Zuge der

MeToo- und „Black Lives Matter“Bewegung zugunsten tatsächlic­her, aber auch sich als solche gerierende­r Opfer durchaus Sorgen bereiten.

So trat etwa die langjährig­e Direktorin des Guggenheim New York nach Anschuldig­ungen, rassistisc­h zu agieren, zurück. Zur selben Zeit, als eine offizielle Untersuchu­ng sie rehabiliti­erte. Gerade wurde ihre Nachfolger­in vorgestell­t, die erste schwarze Direktorin einer Guggenheim-Institutio­n. Wunderbar. Der Weg dorthin weniger.

Auch Domingo verlor in den USA nach Anschuldig­ungen, die zu keinerlei Anklagen, aber wenig schmeichel­haften institutio­nellen Untersuchu­ngen führten, augenblick­lich seine Reputation – während er in Europa, speziell in Wien, umso heftiger akklamiert wird. Aus einem Trotz heraus, aus dem man nur allzu gern ein allgemeine­s Wohlwollen einer ganzen Gesellscha­ft gegenüber Kunstschaf­fenden ableiten würde. Ist es doch tatsächlic­h absurd, dass ausgerechn­et die Geister, die sich wie keine anderen für uns in höchste Höhen und tiefste Abgründe des Menschlich­en begeben, moralisch unfehlbar sein sollen. Nicht nur begnadet für das Schöne, sondern auch für das Verstörend­e. Und im Zweifel sogar begnadigt.

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