Die Zeichen der Zeit werden das Denkmal Domingo begleiten
Darf man einen großen Künstler würdigen und etwaige Verfehlungen beiseitelassen? Nein. Aber sie sollten das Urteil über ihn nicht trüben.
In der Restaurierung bewahrt man heute Kratzer, bessert sie nicht aus. Um andere Urteile in der Zukunft möglich zu machen.
Haben auch Sie sich gefragt, ob in der obigen Würdigung Pla-´ cido Domingos nicht etwas fehlt? Es ist eine wichtige, prinzipielle Frage: Kann man einen bedeutenden Künstler, eine Ikone, zu seinem 80. Geburtstag feiern, ohne die Kratzer zu erwähnen, die sein „Image“zuletzt erhielt? Die MeToo-Debatte, in die dieses unverdrossen singende Denkmal einer verklingenden Opernstarwelt geraten ist? Ja, das kann man. Dafür hat sich unser Musikkritiker entschieden. Sein Herz darf ganz seiner Kunst, der Musik gehören.
Aber eine Zeitung, selbst eine Feuilletonredaktion hat kein (einiges) Herz. Daher die Entscheidung zu dem, was speziell in der bildenden Kunst mittlerweile gängige Praxis ist im Umgang mit historischen Fragwürdigkeiten: zur Kontextualisierung.
Anschaulichstes Beispiel dafür sind die bereits Stein gewordenen Denkmäler. Kaum eines, das in diesen Jahren nicht auf seine moralische Unversehrtheit hin abgeklopft wird. Zu Recht, spielen sie doch theoretische Hauptrollen im öffentlichen Raum, deren temporäre Beharrlichkeit man nicht durch ihre praktische Nichtbeachtung abtun sollte. Stürzen sollte man sie deswegen noch lang nicht. Sondern ihre Entstehung aufarbeiten, sichtbar machen, ihre Existenz so „kontextualisieren“.
Derlei kritische Begleitungen, sei es in Form künstlerischer Interventionen oder erklärender Tafeln, sind wohl die wahren Denkmäler unserer Zeit – spröde Spuren, die unsere manische, teilweise unsympathisch besessene Suche nach politischer Korrektheit hinterlässt. Selten lässt sie sich endgültig finden. Doch allein das Ringen um sie ist schon ein Ziel.
Eine andere Erkenntnis aus der bildenden Kunst sei hier ergänzt: die Entwicklung in der Restaurierung, der Denkmalpflege. Lang schon wird Altes nicht mehr auf Hochglanz poliert und nicht mehr versucht, den Zustand einer anfänglichen Vollkommenheit wieder herzustellen. Sondern man bewahrt die Kratzer, konserviert Fehlstellen, um späteren Generationen die Möglichkeit des eigenen Urteils zu geben. So könnte man es auch mit lebenden Denkmälern halten: Sie nicht verurteilen, sondern kritisch begleiten, ihre Kratzer stehen lassen als Blessuren von Debatten, die sie durch ihr Verhalten – in welchem Maß auch immer – zumindest provoziert haben. Und die ihnen bleiben werden.
Gerade im Kulturbetrieb (nimmt man die USA als das, was sie bisher waren, nämlich Vorreiter) kann einem die radikale Verschiebung der Macht über künstlerische Karrieren und künstlerischen Ausdruck im Zuge der
MeToo- und „Black Lives Matter“Bewegung zugunsten tatsächlicher, aber auch sich als solche gerierender Opfer durchaus Sorgen bereiten.
So trat etwa die langjährige Direktorin des Guggenheim New York nach Anschuldigungen, rassistisch zu agieren, zurück. Zur selben Zeit, als eine offizielle Untersuchung sie rehabilitierte. Gerade wurde ihre Nachfolgerin vorgestellt, die erste schwarze Direktorin einer Guggenheim-Institution. Wunderbar. Der Weg dorthin weniger.
Auch Domingo verlor in den USA nach Anschuldigungen, die zu keinerlei Anklagen, aber wenig schmeichelhaften institutionellen Untersuchungen führten, augenblicklich seine Reputation – während er in Europa, speziell in Wien, umso heftiger akklamiert wird. Aus einem Trotz heraus, aus dem man nur allzu gern ein allgemeines Wohlwollen einer ganzen Gesellschaft gegenüber Kunstschaffenden ableiten würde. Ist es doch tatsächlich absurd, dass ausgerechnet die Geister, die sich wie keine anderen für uns in höchste Höhen und tiefste Abgründe des Menschlichen begeben, moralisch unfehlbar sein sollen. Nicht nur begnadet für das Schöne, sondern auch für das Verstörende. Und im Zweifel sogar begnadigt.