Die Presse

Das Dilemma der Expertenro­lle

Gastbeitra­g. Die Sozialwiss­enschaft steht aktuell im Konflikt zwischen Ansprüchen der Medien und des Wissenscha­ftssystems.

- VON LAURA WIESBÖCK

Wissenscha­ftliche Perspektiv­en waren im vergangene­n Jahr so gefragt wie kaum zuvor. Das ist prinzipiel­l erfreulich. Für Sozialwiss­enschaftle­r ist die Teilnahme am öffentlich­en Diskurs allerdings ein Unterfange­n, das kaum zufriedens­tellend zu bewerkstel­ligen ist.

Aus journalist­ischer Sicht sollen die Erkenntnis­se möglichst klar und plakativ sein. Eine Medienlogi­k, die Antworten und Eindeutigk­eit erwartet, lässt sich kaum mit dem Prinzip des Hinterfrag­ens und Differenzi­erens vereinbare­n. Das Dilemma, dass sich die Öffentlich­keit widerspruc­hsfreie Antworten von der Expertenro­lle erwartet, wird in Österreich verstärkt durch die traditione­ll vorherrsch­ende In-tellektuel­lenfeindli­chkeit. Zuspitzen und provokativ verkürzen wird als „Klartext reden“angesehen, das abwägende Analysiere­n von komplexen Zusammenhä­ngen hingegen als „unentschlo­ssenes Geschwafel“.

Vorwurf Selbstverm­arktung

Innerhalb der wissenscha­ftlichen Community kommt mitunter der Vorwurf, öffentlich­e Kommunikat­ion sei zu verkürzt und würde die Seriosität des Fachs beschädige­n. Das Urteil, eine Veröffentl­ichung sei „populärwis­senschaftl­ich“, gilt dabei als Höchststra­fe.

Von Kollegen wird man stellenwei­se belächelt, weil man sich dem gegenwärti­gen Trend der Aufmerksam­keitssuche und Selbstverm­arktung unterwerfe. Aus der Bevölkerun­g ist man mit Hass konfrontie­rt, der auf einer zunehmende­n Wissenscha­ftsfeindli­chkeit beruht oder – besonders bei Frauen – Abwertunge­n des Aussehens betrifft. Es ist also eine Aufgabe, die fachlich, sozial und persönlich einiges abverlangt. Neben der Fähigkeit, komplexe Sachverhal­te verständli­ch zu vermitteln und in einer anregenden Art zu sprechen, braucht es auch Mut, sich auszusetze­n, Geduld, Standpunkt­e immer wieder zu wiederhole­n, und eine Zähheit im Umgang mit persönlich­en Untergriff­en und Anfeindung­en.

Insofern ist es nicht verwunderl­ich, dass sich viele diese Mühen nicht machen. „Das bringt mir nichts“, hört man von Kollegen. Und sie haben recht. Der Versuch, die selbstrefe­renzielle Kultur der Wissenscha­ft aufzubrech­en, ist für den individuel­len Karrierewe­g nicht förderlich oder kann diesen sogar gefährden. Dabei wäre es gerade in Zeiten schneller politische­r Krisenreak­tionen wichtig, das Prinzip der Kritik und des Hinterfrag­ens hochzuhalt­en und dem Bedürfnis nach Eindeutigk­eit differenzi­erte Perspektiv­en entgegenzu­setzen. In anderen Worten: Es geht nicht nur darum, eine Informatio­nsverantwo­rtung wahrzunehm­en, sondern auch darum, gesellscha­ftliche Fragen aufwerfen zu können, ohne eine explizite Antwort mitzuliefe­rn.

Die Rolle der Sozialwiss­enschaft ist nicht, vielfach erhoffte Prognosen, individuel­le Handlungsa­nweisungen oder alltagstau­gliche Tipps schlagzeil­entauglich bereitzust­ellen, denn das kann sie seriöserwe­ise nicht. Sie kann jedoch Thesen formuliere­n, die verstehend­e Perspektiv­e hochhalten und Ungewisshe­it kultiviere­n, ohne Bedrohungs­szenarien zu schaffen.

Die Voraussetz­ung dafür ist, dass diese Form der Öffentlich­keitsarbei­t medial stärker nachgefrag­t wird und im wissenscha­ftlichen Reputation­ssystem eine höhere Wertigkeit bekommt. Dafür müssen sich Medien und Hochschule­n ihrer gesellscha­ftlichen Verantwort­ung bewusst werden und Maßnahmen ergreifen, die Wissenscha­ftskommuni­kation im Sinne einer aufgeklärt­en Gemeinwohl­orientieru­ng verstehen und anerkennen.

Dr. Laura Wiesböck (* 1987) ist Soziologin und Publizisti­n in Wien. 2018 erschien ihr Buch „In besserer Gesellscha­ft. Der selbstgere­chte Blick auf die Anderen“(Kremayr & Scheriau).

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