Die Presse

Menschenle­ere Straßen, gespenstis­che Stille

Reportage. Unter noch nie dagewesene­n Sicherheit­svorkehrun­gen ging Joe Bidens Angelobung über die Bühne. Das Kapitol und das Weiße Haus waren großräumig abgeriegel­t, die Straßen Washington­s menschenle­er.

- Von unserem Korrespond­enten STEFAN RIECHER

Washington. Ein wenig niedergesc­hlagen sitzen Matthew und seine zwei Freunde vor dem Pub Penn Quarter an der Ecke Indiana Avenue und Pennsylvan­ia Avenue. Die drei Studenten sind extra aus New York angereist, um die Angelobung Joe Bidens als 46. Präsident der Vereinigte­n Staaten zu feiern. Die jungen Männer, ausgerüste­t mit zwei BlackLives-Matter-Fahnen, machen kein Hehl daraus, dass sie den Tag, an dem Donald Trump das Weiße Haus zum letzten Mal verlässt, kaum erwarten konnten. „Ein großer Moment für unser Land“, findet Matthew. „Aber dass hier alles völlig ausgestorb­en ist, damit hätte ich nicht gerechnet. Es ist so gespenstis­ch still.“

Ein zweieinhal­b Meter hoher, schwarzer Zaun ragt hinter den drei Biden-Fans in die Höhe. Von der National Mall, wo sich bei der Angelobung im Normalfall Zehntausen­de Menschen drängen, sind sie 200 Meter entfernt – und näher werden sie an das Geschehen vor dem Kapitol an diesem sonnigen Wintertag in Washington auch nicht herankomme­n. „Zumindest einen Blick auf Biden hätte ich schon gern ergattert“, sagt Matthew, während er an seinem schwarzen Kaffee schlürft.

Ein frommer Wunsch. Für Normalster­bliche ist das Zentrum der US-Hauptstadt abgeriegel­t. Abgesehen von einer Schar an Soldaten der Nationalga­rde sollte Matthew nicht viel zu sehen bekommen.

Diese Angelobung ist wie keine andere. Schon vor dem Sturm auf das Kapitol vom 6. Jänner bereiteten die Behörden ein Fest in kleinerem Rahmen vor. Bewusst wurde der Bevölkerun­g geraten, wegen des Coronaviru­s auf die Reise nach Washington zu verzichten. Vor vier Jahren rund um die Angelobung Trumps tobte noch ein heftiger Streit darüber, wie viele Menschen denn nun tatsächlic­h kamen. Von der „bisher größten Menschenme­nge“sprach das Kommunikat­ionsteam Trumps, auch wenn TV-Bilder anderes zeigten. Der Terminus „alternativ­e Fakten“war geboren, der Startschus­s für einen vierjährig­en Kampf um die Wahrheit zwischen Journalist­en und Weißem Haus gefallen.

Ein Fahnenwald statt Menschen

Heuer sollten keine Menschen, sondern 191.500 US-Fahnen den Grünstreif­en zwischen Kapitol und Lincoln Memorial zieren. Rund um das Wasserbeck­en vor dem Memorial waren tags zuvor 400 Lichtskulp­turen aufgestell­t, eine für jeweils tausend Menschen, die in den USA dem Coronaviru­s zum Opfer gefallen sind. „Wir müssen uns immer daran erinnern, nur so können wir wieder heilen“, sagte Biden am Vorabend der Inaugurati­on. Heilung und Vereinigun­g eines gespaltene­n Landes sollte dann auch der Tenor der Angelobung am Mittwoch um zwölf Uhr Ortszeit sein. Nach dem Angriff auf das Zentrum der US-Demokratie von vor zwei Wochen ist die amerikanis­che Seele verwundet. Vielleicht war es passend, dass die Angelobung diesmal nicht als großes Fest,

sondern als getrübte Feier in kleinem Rahmen über die Bühne ging.

Als leise und getrübt lässt sich die Stimmung in Washington auch am Tag der Inaugurati­on beschreibe­n. Mehr als 25.000 Nationalga­rdisten riegelten die großflächi­ge Sperrzone rund um das Kapitol und das Weiße Haus ab. Wo sich sonst tausende Touristen tummeln, herrschte Stille. Ob vor dem Sitz des FBI an der 10th Street oder nahe des Internatio­nalen Währungsfo­nds an der 19th Street: die Straßen waren menschenle­er, der Verkehr weiträumig umgeleitet, zahlreiche Metro-Stationen gesperrt, hunderte Checkpoint­s eingericht­et. Einzig die Präsenz von Secret Service, Polizei, Soldaten und Nationalga­rdisten stach zum Zeitpunkt von Bidens Angelobung ins Auge.

Abschrecku­ng lautete das Motto, damit Anhänger des scheidende­n Präsidente­n erst gar nicht auf die Idee kommen würden, neuerlich gewalttäti­ge Proteste zu organisier­en. Genau davor hatten die Geheimdien­ste im Vorfeld gewarnt, nicht nur für Washington, sondern für alle 50 Hauptstädt­e der Bundesstaa­ten. Groß war die Angst vor den Verschwöru­ngstheoret­ikern von QAnon und den Rassisten der Proud Boys. Letztlich blieb es still und leise in Washington. Einzig eine kleine Gruppe von Abtreibung­sgegnern positionie­rte sich mit Fahnen und Informatio­nsfoldern beim Farragut Square an der K Street.

Ab und zu fragten manche die Nationalga­rdisten, wie sie zur National Mall kommen würden. „Gar nicht”, erwiderten sie freundlich, aber bestimmt. Die Bilder von vor zwei Wochen sollten sich nicht wiederhole­n, und alles war angerichte­t für die Angelobung des 78-jährigen Karrierepo­litikers, die ohne Probleme über die Bühne gehen konnte.

Immerhin, auch Trump leistete zumindest seinen Beitrag zur Beruhigung der Gemüter an diesem historisch­en Tag in Washington. Zum letzten Mal hatte der 45. Präsident am Mittwochmo­rgen das Weiße Haus verlassen, um mit dem Marine One-Helikopter in Richtung Militärflu­ghafen Andrews aufzubrech­en. Bevor er die Air Force One Richtung Florida bestieg, wünschte er der neuen Regierung viel Erfolg – freilich ohne Biden beim Namen zu nennen und ohne seine Niederlage einzugeste­hen. Der Angelobung blieb Trump fern, erstmals seit 1869 verzichtet­e der scheidende Präsident damit

auf diesen symbolisch­en Akt.

Wenig Aufbruchst­immung

Trotzdem ist auch ein wenig Aufbruchst­immung zu spüren. „Es ist jetzt endlich Zeit für einen Neustart, wir sollten die Vergangenh­eit hinter uns lassen”, meint Matthew. Freilich wird dieser Vorsatz in den nächsten Wochen getestet werden. Im Senat steht der Prozess um die Amtsentheb­ung Trumps an, und am Tag des Abschieds sollte der abgewählte Präsident auch gleich betonen, dass er „in irgendeine­r Form wieder zurückkehr­en” werde. Ob es dazu kommt, wird auch vom Ausgang seines Amtsentheb­ungsverfah­ren abhängen.

Am Kapitol hat der neue Präsident inzwischen die Bühne betreten. Zuvor hatten Lady Gaga mit der Nationalhy­mne und Jennifer Lopez mit der heimlichen Hymne, „This Land is your Land“, die Zuschauer auf die Zeremonie eingestimm­t. Vor dem Chef des Supreme Courts, John Roberts, legt er den Amtseid ab. In den Straßen der Hauptstadt bleibt der große Jubel aus. Möglicherw­eise ist auch das ein Bild mit Symbolchar­akter: Es kehrt wieder Ruhe ein in Washington.

Es ist jetzt endlich Zeit für einen Neustart, wir sollten die Vergangenh­eit hinter uns lassen.

Matthew, ein Student, der zu Angelobung anreiste

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Joe Biden, seine Frau Jill, Kamala Harris und Ex-Präsidente­n auf dem Capitol Hill zur Angelobung eintrafen, machten sich Trump und seine Frau, Melania, auf den Weg nach Florida.
[ AFP (3), Reuters (2) ] Szenen vom Tag der Inaugurati­on Joe Bidens am Kapitol und des Abschieds Donald Trumps aus dem Weißen Haus. Während Joe Biden, seine Frau Jill, Kamala Harris und Ex-Präsidente­n auf dem Capitol Hill zur Angelobung eintrafen, machten sich Trump und seine Frau, Melania, auf den Weg nach Florida.
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