Hinauf auf den Hügel der Macht!
US-Inauguration. Die 22 Jahre alte Afroamerikanerin Amanda Gorman rührte bei der Feier am Kapitol mit ihrem erfrischenden wie auch pathetischen Gedicht „The Hill We Climb“.
Die 22-jährige Amanda Gorman rührte bei der Inauguration von Joe Biden mit einem Gedicht.
Dem neuen US-Präsidenten Joseph Robinette Biden wurde am Mittwoch bei seiner Inauguration vor dem Kapitol in Washington D. C. ein wenig die Schau gestohlen. Nein, nicht von seinem absurd bis erratisch agierenden republikanischen Vorgänger Donald Trump, der dieser Zeremonie fernblieb, auch nicht von Popstar Lady Gaga, die die Hymne sang, sondern von einer jungen Afroamerikanerin aus Los Angeles. Amanda Gorman trug mit wunderbarer Frische ein von ihr eigens für diesen Anlass produziertes, langes Gedicht vor, in dem sie sich gekonnt auch bewährter Klischees bedient, um den Willen zu einem neuen Morgen zu beschwören. „The Hill We Climb“ist ein Text voller Poesie und Pathos, durchtränkt von Idealismus und unerschütterlichem Glauben an die heilsame Mission der Vereinigten Staaten von Amerika.
Was will uns Gorman, was wollen uns Biden und die mächtigste Nation der Welt mittels dieser Lyrik sagen? Sie erinnert an Freiheit fordernde Reden von US-Präsident Abraham Lincoln und Bürgerrechtler Martin Luther King Jr., nimmt auch Anleihen aus der Bibel – geträumt wird von Harmonie, vom Sitzen unter der eigene Weinrebe und dem Feigenbaum. Welche Höhe sollen wir erklimmen? Die Botschaft hört man wohl: Rauf auf den Hügel der Macht! Retten wir Amerika, und dann die ganze Erde!
Wer vor allem aber ist diese Dichterin? Gorman hat trotz ihrer Jugend bereits einiges an Erfahrung im Umgang mit der Öffentlichkeit. Das Kind einer alleinerziehenden Mutter (wie es auch im Gedicht geschrieben steht) wurde zuerst „Youth Poet Laureate of Los Angeles“, dann kürten sie der Jungdichter-Bund „Urban Word“und die Library of Congress 2017 zur ersten „National Youth Poet Laureate“des Landes. Im Kapitol trug sie ihr Gedicht „In This Place (An American Lyric)“vor. Sie fiel der nunmehrigen First Lady Jill T. Jacobs Biden auf. Die schlug vor, dass Gorman bei der Inauguration ein Gedicht vortragen sollte, als jüngste aller bisher bei diesen Feiern aufgetretenen PoetInnen.
Aktivistin gegen Unterdrückung
Bereits 2015 war Gormans schmaler Band „The One for Whom Food is Not Enough“erschienen. Im September soll der nächste folgen, inklusive dem Text von der Inauguration, unter dem Titel „The Hill We Climb“. Geplante erste Auflage: 150.000. Zeitgleich ist ein Bilderbuch geplant: „Change Sings“. Gorman ist so wie ihre Zwillingsschwester Gabrielle Aktivistin für Frauenrechte, gegen Rassismus und Unterdrückung. Sie litt in ihrer Kindheit an einem Sprachfehler. An der Eliteuniversität Harvard hat sie das Fach Soziologie „cum laude“abgeschlossen. Sie schrieb für „The New York Times“. Selbstbewusst sagte sie bereits mit 20, dass sie 2036 zur Präsidentenwahl antreten wolle. Auch in ihrem Inaugurationsgedicht wird auf diese Ambition angespielt: „We, the successors of a country and a time / where a skinny black girl / descended from slaves and raised by a single mother / can dream of becoming president / only to find herself reciting for one.“
Eine Tradition der Demokraten
Hehre Worte für solch einen Anlass. Das Gedicht ist höchst persönlich und zugleich auch ganz aktuell. Es verweist auf den Sturm von Rechtsextremen auf das Kapitol vor zwei Wochen („eine Kraft, die unsere Nation zerstören wollte“), beschwört Einigkeit und Demokratie. Es ist auch ein politisches Lied, wie das üblich ist, seit John F. Kennedy den großen alten Dichter Robert Lee Frost dazu einlud, bei der Inauguration 1961 ein Gedicht vorzutragen. Diese Tradition befolgten bisher nur die Demokraten. Für Bill Clinton dichteten in den Neunzigerjahren Maya Angelou und Stanley Miller Williams, für Barack Obama in diesem Jahrhundert Elizabeth Alexander und Richard Blanco. Es waren bewusste Statements, sie betonten die kulturelle Vielfalt der Nation. 2021 hat aber noch eine besondere Note: Ein 78 Jahre alter Mann lässt sein Land mit den Augen einer 22-Jährigen in die Zukunft blicken, sie wird quasi zur Seherin für eine von politischer Zwietracht geprägte Nation. Das ist Poesie!
Die Tradition des bekränzten Dichters, der dem Herrscher ein Lied singt, reicht zurück in die Antike. Das Verhältnis ist problematisch. Hält man dem Fürsten den Spiegel vor wie ein Hofnarr, oder begnügt man sich mit Lob? Skepsis wäre angebracht. Wer hat schon die Sprachgewalt eines Horaz, der vor gut 2000 Jahren dauerhaft dichtete, weil er listig stets auch an den Widerspruch dachte? Ein Extrembeispiel war Ossip Mandelstam, der Stalin in einem (unveröffentlichten) Epigramm „Verderber der Seelen und Bauernabschlächter“nannte. Der sowjetische Diktator ließ ihn dafür nicht liquidieren, sondern nur verbannen und forderte angeblich ein Preislied. Diese Ode wirkt zwar etwas fremd in Mandelstams genialem Werk, doch vielleicht schlummert auch darin jene subversive Kraft, die große Dichtung auszeichnet. Poetischer Widerstand ist jedenfalls allen zu wünschen, die himmelwärts stürmen.