Leitartikel von Wolfgang Böhm
Die Zeit drängt, aber das Vertrauen in Experten ist im Falle von Impfzulassungen ein sensibles Gut, das nicht beschädigt werden darf.
Zeit entscheidet im Fall von Corona über Leben und Tod. Aber nicht nur darüber. Jeder drängt: Die Wirtschaft will den Lockdown für immer überwinden, der Tourismus ebenso. Ärzte drängen, weil das Gesundheitssystem an seine Grenzen gerät. Deshalb ist es verständlich, wenn die Politik diese Nöte aufgreift, ihrerseits nach Lösungen sucht. Aber es reicht nicht aus, den Druck an die Hersteller von Impfstoffen und Behörden, die diesen prüfen müssen, weiterzugeben. Dies geschah zuletzt im Vorfeld des virtuellen EU-Sondergipfels durch Bundeskanzler Sebastian Kurz und drei weitere Amtskollegen – Frederiksen, Babisˇ und Mitsotakis. Sie appellierten in einem Brief für eine schnellere Zulassung des Massenimpfstoffs von AstraZeneca durch die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA).
Rascher Erfolg und anhaltendes Vertrauen sind zwei Paar Schuhe. Natürlich streben Politikerinnen und Politiker nach Lösungen. Es ist ihre ureigenste Triebfeder, im Sinne der Bevölkerung Probleme so schnell wie möglich aus dem Weg zu räumen. Doch bei Gesundheitsfragen kann nicht agiert werden wie bei der Standortgenehmigung für ein Großunternehmen oder bei der Hilfe für Erdbebenopfer. Es geht um ein mehrdimensionales und hochemotionales Thema.
Zweifellos gibt es auf EU-Ebene so wie in jeder Verwaltung bürokratische Bremsfaktoren. Diese sind zu überwinden oder zu beseitigen. Aber im Falle von Impfstoffen gibt es daneben noch einen weiteren entscheidenden Faktor: Vertrauen. Nämlich in jene Experten, die Risken der unterschiedlichen Präparate bewerten.
Kurz und seine Interessenspartner wollen die Arbeit der Europäischen Arzneimittelbehörde beschleunigen. Aber ahnen sie, dass sie damit die Reputation der EMA beschädigen könnten? EMAChefin Emer Cooke, selbst eine renommierte Pharmazeutin, warnt seit vergangenem Jahr genau davor: „Die europäischen Bürger haben uns gesagt, dass sie eine schnelle Zulassung wünschen, aber noch wichtiger ist, dass sie eine gründliche Bewertung des Nutzens und der Risken des Impfstoffs wünschen.“Die EMA hat den Pfizer/Biontech-Impfstoff, der derzeit in Österreich verabreicht wird, nur drei Wochen nach der offiziellen Einreichung zugelassen. Dies gelang durch ein Verfahren, in dem die Hersteller schon vorab Daten zu Tests übermittelten. Ähnlich war es bei dem Impfstoff von Moderna, der Anfang Jänner seine Genehmigung erhielt.
Nun will die EMA bis 29. Jänner über AstraZeneca entscheiden. Und obwohl jeder Tag zählt, muss sie das mit einer ausreichenden Sorgsamkeit tun. Insbesondere, da es voraussichtlich um jenen Impfstoff geht, den die meisten von uns in diesem Jahr erhalten werden. Das von der Universität Oxford mitentwickelte Vakzin ist ein herkömmliches Präparat, das leicht gelagert und verabreicht werden kann. Wie es freilich zuletzt hieß, muss es noch an die Mutante angepasst werden. Zeitdruck ist da kontraproduktiv.
Ähnlich problematisch ist der politische Druck, der in Deutschland entstanden ist, um die Produktion von Impfstoffen bei Pfizer/Biontech zu beschleunigen und mehr Dosen aus einer Ampulle zu verimpfen. Denn auch dadurch wird das Vertrauen in den Impfstoff verringert – oder verdünnt, wie es hier vielleicht besser heißen müsste.
Der neidische Blick über Grenzen hinweg nach Großbritannien oder Israel, die bereits weit höhere Impfraten erreichen, verzerrt die Sicht auf das eigene Problem. Denn in Großbritannien handelt es sich um eine Notzulassung des Impfstoffs, bei der der Staat und nicht der Hersteller für Schadenersatzansprüche haftet. In Israel waren es die ausgeklügelte militärische Logistik und die Bereitschaft, einen höheren Preis zu bezahlen, die den Erfolg ermöglichten.
Das eigene Problem, um den Erfolg der Impfung in der EU zu steigern und die Covid-Krise zu lösen, ist nicht allein der Zeitfaktor. Es ist vor allem die mangelnde Impfbereitschaft europäischer Bürger. Sie ist niedriger als in vielen anderen Teilen der Welt, und sie wird nicht steigen, wenn die Politik die Arbeit der Impfstoff-Experten und ihrer Behörde öffentlich infrage stellt.
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